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nmz-archiv
nmz 2007/10 | Seite 37
56. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Brückenbauer zwischen Orient und Okzident
Zum hundertsten Geburtstag des türkischen Komponisten Ahmed
Adnan Saygun
Am 7. September diesen Jahres wäre Ahmed Adnan Saygun, der
bedeutendste Komponist der Türkei, 100 Jahre alt geworden.
Noch so ein „Nationalkomponist“, und jetzt auch noch
ein Türke, wo in diesem Land die klassische Musik so gut wie
keine Rolle spielt?
Ahmed
Adnan Saygun. Foto: nmz-Archiv
Wenn wir das Verhältnis von Bevölkerungszahl und an klassischer
Musik interessierten Menschen betrachten, hat klassische Musik
in der Türkei keine nennenswerte Bedeutung – überhaupt
spielt auch die populäre westliche Musik dort so gut wie keine
nennenswerte Rolle. Andererseits gibt es eine auf den Staatsgründer
der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, zurückgehende
Pflege der am Westen orientierten klassischen Musik durch die Aristokratie.
Mit Atatürks politischen und gesellschaftlichen Reformen in
den 20er-Jahren bekam die im abendländischen Sinne „komponierte“,
polyphone Musik immensen Rückenwind eingehaucht, und eine
Handvoll Komponisten, allesamt im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts
geboren und in ihrer Kindheit und Jugend von den radikalen Umwälzungen
und dem Idealismus der neuen, säkularen Türkei geprägt,
formierte sich (nach dem Vorbild des russischen „Mächtigen
Häufleins“ um Rimsky-Korsakov, Borodin und Mussorgsky)
zu den „Türkischen Fünf“: Cemal Resit Rey,
Ulvi Cemal Erkin, Necil Kazim Akses, Ferid Alnar und Saygun. Unter
diesen sind Rey und Erkin beeindruckende Meister internationalen
Formats. Die in ihrer unverwechselbaren Eigenart und ihrem kreativen
Reichtum überragende Figur freilich ist Ahmed Adnan Saygun.
Der Vater des in Izmir geborenen Tonsetzers war nicht nur Mathematiklehrer,
sondern zugleich ein Derwisch des Mevlevi-Ordens (des Ordens der
wirbelnden Derwische, mit denen heute der türkische Tourismus
wirbt). Die Mevlevi gehen zurück auf Mevlana Celaleddin Rumi
(1207–1273), weltberühmt als einer der größten
Dichter der Menschheitsgeschichte, und im Orient angesehen als
ein Heiliger, ein wahrhaft Verwirklichter, der in der Poesie seine
Verbindung mit der göttlichen Gegenwart zum Ausdruck bringt.
So wuchs der junge Saygun in die sufische Tradition hinein, die
stets Menschen hervorbrachte, die für sich stehen, die tragende,
aktive Elemente der Gesellschaft sind, ohne sich mit ihr zu identifizieren – gemäß der
Maxime: „Wir sind in der Welt, nicht von der Welt.“
Als Zwölfjähriger komponierte Saygun sein erstes Stück.
Er lernte die Poesie von Yunus Emre kennen und lieben – was
später, 1942, seinen Niederschlag in seinem bis heute bekanntesten
Werk fand: dem Oratorium Yunus Emre op. 26, das 1947 in Ankara
zur Uraufführung kam, ein Jahr später in Paris erklang,
1958 bei den United Nations in New York unter den magischen Händen
von Leopold Stokowski seine überwältigende Wirkung entfaltete
und daraufhin in aller Welt gegeben wurde.
Ab 1926 war der junge Saygun Musiklehrer am Gymnasium in Izmir
und schrieb eine ganz am klassischen Vorbild ausgerichtete („nullte“)
Sinfonie. 1928 wurde er als staatlicher Stipendiat nach Paris geschickt,
wo er an der von Vincent d’Indy geleiteten Schola Cantorum
studierte. Er erreichte in kürzester Zeit vollendete technische
Meisterschaft in allen akademischen Techniken mit der eminenten
Palette des französischen Raffinements, und zugleich blieb
er bewusst mit seinen kulturellen Wurzeln verbunden. In seiner
Musik errichtete er forthin tönende Brücken zwischen
Orient und Okzident. 1931 kehrte er in die Türkei zurück.
1936 unternahm er zusammen mit Béla Bartók die berühmte
Volksmusik-Exkursion nach Südost-Anatolien, deren Bericht
er 1976 veröffentlichte. Saygun erwarb sich hohe Verdienste
als Musikethnologe. 1936 bis 1946 wirkte er in Istanbul, um nach
Kriegsende wieder in Ankara zu lehren, nunmehr als einflussreichster
Kompositionsprofessor seines Landes. In den folgenden Jahren wurde
er mit internationalen Ehrungen überhäuft und bekleidete
wichtige administrative Funktionen.
Er schrieb fünf Sinfonien und fünf Solokonzerte, allesamt
Werke höchsten Karats. Nicht weniger attraktiv sind seine
Kammermusik, Klavierwerke, Lieder und Opern. Unterschiedlichste
Einflüsse fließen in seinem Schaffen zusammen zu einer
einmalig vielgestaltigen, von aller Konvention befreiten Tonwelt,
was jeder Interessierte anhand der bei cpo erscheinenden CD-Serie
nachvollziehen kann. Saygun war, wie Dmitri Schostakowitsch oder
Eduard Tubin, einer der substanziellsten und eigentümlichsten
Komponisten der zweiten Generation der klassischen Moderne.