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nmz-archiv
nmz 2007/10 | Seite 8
56. Jahrgang | Oktober
www.beckmesser.de
Das kenn’ ich doch
In einer Untersuchung über die Zuverlässigkeit von Aussagen,
die auf Wiedererkennungseffekten beruhen, zitiert der Psychologie
Gerd Gigerenzer den Ratschlag eines Wirtschaftsprofessors: „Wenn
du eine Stereoanlage kaufst, wähle eine Marke, die du wiedererkennst,
und das zweitbilligste Gerät.“ Da der Professor kein
Fachmann für Stereoanlagen ist, verlässt er sich auf
seinen gesunden Menschenverstand und denkt sich: Bei einer allgemein
bekannten Marke ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ihre Produkte
eine gewisse Qualität aufweisen, denn sonst würde ja
keiner davon reden; aber das billigste Gerät lasse ich beiseite,
denn es könnte ein Lockvogel und tatsächlich minderwertig
sein.
Die Argumentation von Gigerenzer läuft darauf hinaus, dass
halbinformierte Laien ein Ereignis oft präziser beurteilen
und vorhersagen können als die im Detailwissen ertrinkenden
Spezialisten, und er meint, dass Staat und Privatwirtschaft Milliarden
sparen könnten, wenn sie sich nicht auf hochbezahlte Beratergremien,
sondern auf wissenschaftlich aufbereitete Erkenntnisse des Durchschnittsbewusstseins
stützen würden. Die diversen Versuche der letzten Jahre,
McKinsey & Co. auf kulturelle Institutionen loszulassen, scheinen
das zu bestätigen. Wenn bei den sündhaft teuren Expertisen überhaupt
etwas herauskam, dann das, was man ohnehin schon wusste.
Die Methode, mithilfe von Wiedererkennungsmechanismen Lösungen
für komplexe Probleme zu finden, nennt Gigerenzer Rekognitionsheuristik.
Seine auf den ersten Blick provozierende Behauptung, dass aus individueller
Unwissenheit eine kollektive Intelligenz erwachsen könne,
untermauert er mit Daten und Versuchsreihen, die schwer zu widerlegen
sind.
Solche Erkenntnisse lassen sich zweckorientiert anwenden, etwa
im Marketing: Ist ein Produkt einmal als Qualitätsprodukt
im Markt verankert, kommt der Wiedererkennungseffekt in Gang – der
Käufer nimmt es „intuitiv“ als das Bessere wahr.
Das gilt auch im Handel mit musikalischen Produkten, im Verlags-,
Veranstalter- und Mediengewerbe. Dazu gehört auch die zeitgenössische
Musik, seit sie aus ihrer Nische herausgetreten ist und zunehmend
große Säle zu füllen vermag. Ihr Publikum entspricht
am deutlichsten dem Typus des halb informierten Laien – dies
ist ohne Geringschätzung gesagt. Sein Hauptkriterium ist nicht
die nur den Spezialisten zugängliche, analytisch begründbare „kompositori-sche
Qualität“, sondern die Wiedererkennbarkeit des Künstlernamens:
Was allgemein bekannt ist, muss besser sein als das, wovon keiner
spricht.
Da spielt es dann keine Rolle, dass von Komponist A die Insider
wissen, dass ihm nichts mehr einfällt, dass von Dirigent B
die Musiker sagen, man könne bei ihm spielen, was man wolle,
weil er eh nichts höre, und dass unter den Händen des
weltberühmten Interpreten C alle Stücke gleich klingen.
Das interessiert das breite Publikum nicht. In seinen Augen bürgen
sie für Qualität, denn irgendwann einmal haben sie sich
ja mit außergewöhnlichen Leistungen ihren Marktwert
erobert.
Ein erfahrener Veranstalter weiß, dass er an solchen Erwartungen
nicht vorbeiprogrammieren darf, und er bemüht sich deshalb
um einen ausgewogenen Mix von Bekanntem und Unbekanntem. Es wäre
zweifellos verantwortungslos, wenn er sich nur dem Spiel mit der
Wiedererkennbarkeit überließe. Doch spricht das nicht
gegen die begründete Annahme, dass im heuristischen Urteil
des Publikums gleich viel Wahrheit über die Qualität
der Werke steckt wie in den kenntnisreichen Analysen von Spezialisten?