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2007/10 | Seite 12
56. Jahrgang | Oktober
Ferchows Fenstersturz
Das Böse ist immer
und überall*
Während ich bei abgedunkelter Wohnung, allzeit bereit meine
Nachbarn als Kofferbomber zu denunzieren, auf Wolfgang Schäubles
prophezeite nukleare terroristische Bombe im Briefkasten warte,
spielt sich eine bisher nicht analysierte Bedrohung im deutschen
Musik-Fernsehen ab: POPSTARS, MTV, Popkomm und RTL heißen
die Terroristen der neuen Generation. Da formiert sich zum x-ten
Mal eine bereits vorher vergessene POPSTARS-Band im kreativen Terrorcamp
von PRO 7; natürlich unter Drohungen und Videobotschaften
des tanzenden Mr. Wichtig „Dee“. Trotz mutmaßlicher
Musikexperten wie Dieter Falk oder Jane Comerford muss man wöchentlich
ein Furcht erregendes und Angst einflößendes Geplärre
der Kandidaten auf ihrem musikalischen Dschihad ertragen. Keiner,
der den gefragten Ton um wenigstens sechs Töne drüber
oder drunter anvisiert. Dafür gibt es von den Auszubildenden „Deutsch
als Fremdsprache“, oft gemeingefährlich „performt“.
Unbegreiflich, wie man diesen talentlosen Kids nur ein Gramm Musikalität
bescheinigen kann. Aber Dieter Falk verbrach ja auch straffrei
diverse PUR-Alben.
Ein „Recall“ in Guantanamo Bay statt
in der Schweiz würde sicher Besserung unter allen Involvierten
bringen. Kaum besser läuft es beim ehemaligen Musiksender
MTV. Dort gibt es den als „MTV Video Music Awards“ getarnten
musikalischen Streichelzoo aus Las Vegas mit Britney Spears als
angeschossene Tanzbärin. Zur Eröffnung taumelt die desorientierte
Pop-Queen bei ihrem „Comeback“ über die Bühne
und mutiert live zum Zombie. Mit unbeholfenen Tanzschritten, die
einer missratenen „Dirk Bach“-Parodie ähneln,
lahmt sie ferngesteuert zwischen knackigen Tänzern, die sich
mit diesem Auftritt ihre Karriere gründlich versaut haben.
Die restliche MTV-Posse besteht aus grinsenden Gangsterrappern,
deren Waffenarsenal unter den großzügigen weil runden
Tischen problemlos um eine UZI aufgestockt werden konnte. Die Bedrohung
lauert überall, möglicherweise sogar unterm Buffet. In
den Werbepausen lohnt ein Zapping zum ZDF.
Das hat sich in den
Vorabend-Nachrichten zu einer kurzen, aber uninspirierten, Popkomm
Reportage nötigen lassen. Überraschender Weise ist bei
der Popkomm alles toll und bunt, doch auf keinen Fall musikalisch.
Dafür kindgerecht. Berüchtigte Teeniebands wie Tokio
Hotel schröpfen die Brustbeutel der 13-Jährigen; eine
minderjährige Newcomer Band wird als Sensation feilgeboten.
Beleg: ein Livemitschnitt inklusive gnadenlosem Dosensound und
einer Sängerin, die immerhin genau so viele Töne trifft
wie ihre POPSTARS-Kollegen. Geil ist die Popkomm gleichwohl, schließlich
fungiert Paul van Dyke, weltbekannter deutscher DJ-Recke auf musikalischer
UNO Mission, als Aushängeschild und Legitimation der von den
Kölnern nach Berlin geprügelten Veranstaltung. Bekanntlich
haben wir alle einen „Paul van Dyke-Remix“ neben unseren
Bombenbauanleitungen aus dem Internet im Gartenblockhaus versteckt.
Bleibt noch RTL mit seinen gewissenlosen „100 ultimativen
usbekischen Charthits“. Keine Frage, Schäuble hat Recht.
Nur das Ziel muss neu justiert werden.
Sven Ferchow
* Textauszug aus „Banküberfall“ der Ersten
Allgemeinen Verunsicherung (EAV)