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nmz-archiv
nmz 2007/10 | Seite 4
56. Jahrgang | Oktober
Magazin
Priorität für das künstlerisch-ästhetische
Wagnis
Interview mit Christian Esch, Direktor des NRW-Kultursekretariats, über
die Bonner „Freax“-Uraufführung
„Freax“ von Moritz Eggert war nicht nur ein Auftragswerk von
Theater Bonn und Beethovenfest Bonn, sondern auch gefördert
aus dem Fonds Neues Musiktheater des NRW Kultursekretariats und
vom Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen. Sich
ausschließlich mit einer traditionellen Uraufführungskritik
in die Stimmen zur Bonner Uraufführung des Eggert-Schlingensief-Skandals
einzureihen, erschien der Redaktion der neuen musikzeitung redundant.
Wir wollten einen Blick hinter die Kulissen werfen und führten
ein Gespräch mit Christian Esch, dem Direktor des NRW Kultur-
sekretariats (unser Bild).
Dreharbeiten
zu „Fremdverstümmelung“ von Christoph
Schlingensief.
Foto: Thilo Beul/Oper Bonn
neue musikzeitung: Was wäre mit „Freax“ geschehen,
hätte es wirklich, wie Schlingensief wollte, eine Beteiligung
von Menschen mit Behinderung gegeben? Hätte dies die Produktion
gerettet?
Christian Esch: Es wäre in jedem Falle eine völlig andere
Produktion geworden, die als Voraussetzung eine völlig andere
Stück-Konzeption und Musik erfordert hätte. Die Voraussetzung
dafür wäre dann eine andere Personen-Konstellation als
die in Bonn gewesen. Wie Moritz Eggerts Oper und Christoph Schlingensiefs
Theaterarbeit zueinanderfinden können, davon muss das Theater
Bonn eine Vorstellung gehabt haben, welche auch immer. Jedenfalls
halte ich Schlingensiefs Idee, konsequent ein Musiktheater zu entwickeln,
das von den Freaks nicht nur dargestellt, sondern auch geschaffen
wird, für sehr reizvoll.
nmz: Ist das Bonner Schisma ein Einzelfall oder deutet es auf
einen Umbruch im zeitgenössischen Musiktheater hin?
Esch: Mir scheint sich hier erst einmal die gar nicht so neue
Frage zu stellen: Ist die Oper in ihrem traditionellen Erscheinungsbild
(Zwischenspiele, Nummern, Chöre et cetera) heute noch generell
und für jedes Thema geeignet? Ist jene althergebrachte Produktionsform,
die so aussieht, dass der Komponist ein Libretto vertont, Sänger
und Orchester die Musik einstudieren und das Ganze vom Regieteam
auf die Bühne gebracht wird, die einzig denkbare?
Ich glaube das nicht. Deshalb haben wir kürzlich eine Uraufführung
im Rahmen des „Fonds Experimentelles Musiktheater“ (Ronchetti/Hensel/von
zur Mühlen) in Gelsenkirchen produziert, die ganz anders
vorgegangen ist. Text, Regie und Musik haben das Stück „Der
Sonne entgegen“ von Beginn an gemeinsam entwickelt.
Das Ergebnis lässt sich nochmals im Dezember im Berliner Radialsystem
V begutachten. Die Schwierigkeiten eines Stadttheaterapparats
im Umgang mit solchen Produktionsformen sind erheblich, das hat
sich gezeigt, aber es kann und muss gehen, auch das hat sich gezeigt.
Ausgerechnet am Theater Bonn werden wir im Januar ’08 die
nächste so entstandene Produktion uraufführen.
Den Fonds für solche Produktionen, die auf der Basis von jurierten
Ausschreibungen entstehen, haben wir im NRW Kultursekretariat sozusagen
als Gegenstück zum „Fonds Neues Musiktheater“ entwickelt,
aus dem wir die „Freax“ gefördert haben.
nmz: Ist die Tendenz zum Event, zu Skandalon und Spektakulum
auch im Musiktheater unausweichlich und unumkehrbar? Wie verträgt
sie sich mit der Handlungsfreiheit, der Verantwortung von Intendanz
und Dramaturgie für akzeptable künstlerische Ergebnisse?
Esch: Auch im traditionellen Rahmen verlangen Uraufführungen
nach intensiver dramaturgischer Arbeit und Vorarbeit, zum Beispiel
bei der Zusammenstellung des Produktionsteams, die sich ausschließlich
am möglichst adäquaten künstlerischen Ergebnis orientieren
muss. Dass diese künstlerischen Erwägungen absolut entscheidend
sind und nicht auf andere Effekte wie Big Names, PR und Skandale
geschielt wird, ist natürlich unabdingbar. Schlingensief,
dessen Film in der Pause der Uraufführung mich beeindruckt
hat, als innovativer Partner in der fertigen Konzeption von Eggert:
das roch mir von vornherein nach Problemen. Dass der Umgang mit
dem Thema und die Dramaturgie des Ganzen in mancher Hinsicht mehr
Nähe zu den „Pagliacci“ als zu aktuellem Musiktheater
hat, muss spätestens mit Probenbeginn klar gewesen sein, eigentlich
schon bei der Lektüre des Librettos. Aber natürlich ist
eine solche Zusammenarbeit letztlich die Entscheidung des
Hauses und vor allem der Künstler selbst, die damit gemeinsame
Verantwortung übernehmen.
nmz: Hat der innovative musikdramaturgische Entwurf im Stadttheater
noch Heimat und Zukunft?
Esch: Wir haben in Gelsenkirchen im Mai dieses Jahres mit der
erwähnten
experimentellen Produktion „Der Sonne entgegen“ bewiesen,
dass es geht, auch wenn es mühsam ist. Mit dem „Fonds
Experimentelles Musiktheater“ werden wir 2008 in Bonn
und dann in Bielefeld, übrigens gemeinsam mit der Kunststiftung
NRW, diesen Weg weitergehen, veränderte Produktionsprozesse
mit den Stadttheater-Strukturen zusammenzubringen. In beiden Häusern
ist der deutliche Wille und auch die nötige Risikobereitschaft
erkennbar, die gegebenen Strukturen zu befragen und sich auf ungewohnte
Konzepte und Prozesse, also sich ästhetisch und formal auf
ein Experiment einzulassen. Und ich frage Sie: warum sollte es
nicht immer besser funktionieren? Das verbreitete Bild vom starren
Stadttheaterapparat, ob berechtigt oder nicht, kann am besten
das Stadttheater selbst korrigieren, indem es sich als reaktionsfähig
und flexibel erweist. Damit hat es auch die Chance, neue ästhetische
Wege des Musiktheaters zu gehen und vielleicht solche Wege zukünftig
wieder stärker auch selbst zu weisen.
nmz: Welche Chancen bietet die traditionelle Trennung von Libretto,
Komposition, Regie? Was wird umgekehrt dadurch be- oder verhindert?
Esch: Zunächst einmal: Das kann natürlich sehr gut funktionieren
und funktioniert ja auch immer wieder, wenn auch mit ganz unterschiedlichen
künstlerischen Ergebnissen. Die Literatur-opern Glanerts werden
landauf, landab gespielt – sie gelten ja mittlerweile als
Marke für die jeweiligen Häuser, im Sinne von: Zeitgenössisches
Musiktheater muss nicht mal weh tun! Ein anderer, radikalerer Ansatz
sind die Textfragmentierungen und die musikalischen Erschütterungen
Rihms. Er arbeitet zwar ebenfalls auf der Basis von Literatur,
aber nicht narrativ und traditionell: Seine Musik ist dabei ein
sehr eigenständiger Parameter, der mit dem Text arbeitet,
ihn aber nicht „vertont“.
In beiden Fällen ist der Komponist auch der eigene Librettist
beziehungsweise Textarrangeur, und die Regie kommt erst zum Schluss
ins Spiel. Eggerts Verfahren ist dagegen ganz traditionell: Sujetbestimmung,
Erarbeitung der Textvorlage durch die Librettistin, gemeinsame
Weiterarbeit und dann die Inszenierung des Ganzen durch einen
hinzukommenden Regisseur – so ähnlich haben schon Scarlatti
und Metastasio oder Mozart und Da Ponte gearbeitet. Dazu kommt
bei Eggert der unbedingte Wille zum Publikumserfolg. Bei der Entwicklung
des „Fonds Experimentelles Musiktheater“ haben Winrich
Hopp und ich darüber nachgedacht, welchen Anteil das Theater,
also auch das Schauspiel, im Musiktheater haben kann. Vor allem
geht es darum, dass Musik, Text und Regie von Beginn an gemeinsam
arbeiten und das Stück entwickeln. Das ist ja nichts sensationell
Neues, wird aber viel zu selten gemacht – wohl, weil man
meint, die Katze im Sack zu kaufen, aber auch wegen der eingeschliffenen
Produktionsmechanismen.
nmz: Fördern, was es schwer hat! lautete einmal das Diktum
des NRW Kultursekretariats. Wie schwer müssen es sich förderungswürdige
Produktionen mit sich selbst und der Opern-Tradition machen?
Esch: Der „Fonds Neues Musiktheater“, den wir gemeinsam
mit dem Land NRW betreiben, vergibt Fördermittel nach
festen Kriterien: Als förderwürdig „gesetzt“ sind
Uraufführungen, sofern es sich nicht um Musicals oder dergleichen
leichte Kost handelt. Man weiß zum Zeitpunkt der Antragsbewilligung
natürlich nie genau oder ahnt allenfalls, wie eine Produktion
ausfällt, ob sie es sich und anderen schwer macht oder nicht.
Ob „Freax“ nun angesichts der von Eggert so eindeutig
angestrebten (und auch weitgehend erreichten) Publikumsgunst gefördert
werden muss oder sollte, diese Frage ist allerdings durchaus berechtigt.
Was das Szenische angeht: Im Gespräch mit dem Förderpartner
Land NRW, während der turbulenten Ereignisse in Bonn, waren
wir, Kultursekretariat und Land, uns darin einig, dass wir trotz
der nur halbszenischen Aufführung – „konzertant“,
wie sie annonciert wurde, war sie ja übrigens gar nicht – die
Förderung nicht zurückziehen. Das gehört zu den
Risiken von Uraufführungen.
nmz: Welche Konsequenzen ergeben sich aus den Bonner Erfahrungen
für die Förderungspolitik des NRW-Kultursekretariats?
Esch: Wir wollen und müssen die Häuser dabei unterstützen,
Risiken einzugehen, gemeinsame oder einzelne Anstrengungen von
Theatern fördern, sich und dem Publikum etwas vorzustellen,
was sich nicht zu erheblichen Teilen an Auslastungszahlen und kulturpolitischem
Wohlgefallen bei den Stadträten orientiert. Das ist für
meine Begriffe ohnehin die verdammte Pflicht von subventionierten
Häusern. Trotzdem tut es mehr denn je not, sie angesichts der
seit Jahren dramatisch zurückgehenden Subventionen finanziell zu
ermutigen, Entwicklungen mit voranzutreiben, öfter mal ausgetretene
Pfade zu verlassen und neue künstlerische Ansätze zu
ermöglichen. Denn der Druck auf die Intendanten, Gefälliges,
sogenanntes Verständliches zu bringen, wächst ja allerorten
immer weiter. Das Instrument „FNM“ ist also zweifellos
richtig und wichtig, aber manche Töne sollten mit seiner Hilfe
nicht eigens zum Klingen gebracht werden. Obwohl wir bereits vor
zwei Jahren die Förderkriterien deutlich geschärft haben,
müssen wir weiter besprechen, wie wir den Fonds bei seiner
Neuauflage 2009 in Richtung seines eigentlichen Förderzwecks
präzisieren können. Im Mittelpunkt muss mit oberster
Priorität das künstlerisch-ästhetische Wagnis stehen.