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nmz-archiv
nmz 2007/10 | Seite 5
56. Jahrgang | Oktober
Magazin
Übergroß das Prinzip Abstraktion
Hans Werner Henzes „Phaedra“ an der Staatsoper Unter
den Linden
Peter Mussbach, der bei früheren Inszenierungen oft auf eigene
Bühnenbilder zurückgriff, arbeitet jetzt häufig
mit prominenten Vertretern der bildenden Kunst zusammen. Wenn er
Jörg Immendorff, Robert Longo, Jimmy Durham oder dem Duo Elmgreen & Dragset
ein so großes Gewicht gibt, mag er an die spezifische Tradition
der von ihm geleiteten Staatsoper denken, an die Krolloper, die
in den zwanziger Jahren Bauhaus-Künstler wie Oskar Schlemmer
und László Moholy-Nagy für ihre Bühnenbilder
verpflichtete.
Das
Opernhafte prinzipiell in Frage gestellt: Szene aus „Phaedra“ von
Hans Werner Henze. Foto: Ruth Walz
Wie damals sind auch heute viele dieser Künstler Opern-Debütanten,
was der jetzt für Henzes „Phaedra“ engagierte
Isländer Olafur Eliasson freimütig zugibt. Entsprechend
war es für ihn kein Problem, ohne Kenntnis der Musik sein
Bühnenbild beziehungsweise Raumkonzept zu entwerfen. Da Henze
aber kein Unbekannter ist, hätte man wissen können, dass
dieser wie kaum ein anderer Komponist vom Primat der Sprache ausgeht
und mit Musik Inhalte vermittelt. Aber der Regisseur Mussbach versicherte,
in „Phaedra“ gebe es „keine narrative Struktur“.
Damit öffnete er Eliasson das Tor zur Abstraktion und zur
Möglichkeit, das Opernhafte prinzipiell in Frage zu stellen.
Eliasson leitet seit 1995 in Berlin ein „Labor für Raum-
und Zeituntersuchungen“. Von daher sein Interesse an Fragen
der Wahrnehmung. Für „Phaedra“ entwarf er ein
Raumkonzept, das opernübliche Hierarchien
auf den Kopf stellt: nicht mehr die Bühne ist die Hauptsache,
sondern der Zuschauerraum, nicht mehr die Darsteller, sondern das
Publikum. Um „die Beziehung von Absender und Empfänger
neu zu definieren“, drehte er auch das Orchester um; es spielt
nicht mehr vorn im Orchestergraben, sondern hinter dem Publikum
im Parkett. Dem opernüblichen Primat des Ohres setzte Eliasson
die optische Wahrnehmung entgegen. Passend dazu erblickte man in
der Aufführung (wie auf dem Programmheft) zunächst nur
eine riesige Pupille. Es ist laut Mussbach die des Opernbesuchers,
also des „Zuschauers“: „In jedem Zuschauer ist
praktisch die Zentralperspektive als Fluchtpunkt gebunden.“
Diese Versuchsanordnung, die in der Nachfolge von Nonos „Prometeo“ das
Verhältnis von Bild und Ton thematisieren wollte, war technisch
grandios umgesetzt. In Spiegelwänden erblickte das Publikum
sich und das Orchester. Wenn aber die Protagonisten diese Wände
durchschritten, wurden sie transparent.
Leider aber hatte dieses Raumkonzept nur wenig zu tun mit dem
Libretto von Christian Lehnert mit Regieanweisungen und erzählenden
Momenten sowie – last but not least – der Musik von
Hans Werner Henze.
Die Inszenierung ließ die Handlung nur in Umrissen erkennen.
Wald- und Jagdszenen waren nicht einmal angedeutet und die bei
Henze individuell behandelten Figuren so typisiert, dass man etwa
Phaedra und Artemis kaum unterscheiden konnte. Wie im Vorjahr bei
Pascal Dusapins „Faustus, the Last Night“ (vergleiche
nmz 3/2006) berücksichtigte Mussbach den Duktus der Partitur
kaum.
Dass die Uraufführung dieser „Konzertoper“ (so
die von Mussbach allzu wörtlich verstandene Gattungsbezeichnung)
dennoch zum umjubelten Ereignis wurde, lag neben der perfekten
Raumgestaltung vor allem an der Originalität und Durchsichtigkeit
der Partitur sowie am hohen Niveau der Interpretation. Das von
Michael Boder geleitete Ensemble Modern sowie die fünf Gesangssolisten
(Maria Riccarda Wesseling als Phaedra, Marlis Petersen als Aphrodite,
John Mark Ainsley als Hippolyt, Axel Köhler als Artemis und
Lauri Vasar als Minotaurus) leisteten in Intonation und Textverständlichkeit
Maßstäbliches. Man konnte das Werk also auch – wie
einst Bruckner in Bayreuth – mit geschlossenen Augen als
primär musikalisches Ereignis genießen. Wie der zum
Schluss wiedergeborene Hippolyt hat der 81-jährige Komponist
mit diesem jugendfrischen Spätwerk noch einmal zu unerwarteter
Schaffenskraft zurückgefunden.
Um die autobiographischen Züge zu unterstreichen, hatte Mussbach
dem Hippolyt eine gewisse Ähnlichkeit mit Henze gegeben. Der
Bühnenfigur im Parkett saß im 1. Rang sein Alter Ego
gegenüber, gefeiert wie schon lange nicht mehr. Hippolyt – Henze:
Dies war die eigentliche Fluchtlinie, die Konkretisierung des sonst
allzu abstrakten Abends.