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nmz-archiv
nmz 2007/10 | Seite 15
56. Jahrgang | Oktober
Forum Musikpädagogik
Der Sache dienender Mensch und Musiker
Zum Gedenken an den Pianisten Jürgen von Oppen
„Dem Manne muss die Musik Feuer aus dem Geist schlagen.
Musik ist höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie … Wem
meine Musik sich verständlich macht, der muss frei werden
von all dem Elend, womit sich die andern schleppen.“ Diese
Worte richtete Ludwig van Beethoven im Jahre 1810 an Bettina von
Arnim, die Schwester des romantischen Dichters Clemens Brentano,
mit deren Familie Beethoven seit längerem befreundet war.
Wie für Beethoven gilt dieses Bekenntnis auch für den
großen deutschen Pianisten Jürgen von Oppen, der im
vergangenen Jahr nach langer schwerer Krankheit verstorben ist.
Musik als Offenbarung einer höheren Wahrheit – dies
war sein Anliegen als Pianist und bedeutender Lehrer, der Generationen
von Schülern geprägt hat.
Geboren wurde Jürgen von Oppen, der einer Pfarrersfamilie
entstammte, im Jahre 1931 in Bernburg/ Sachsen-Anhalt. Von frühester
Jugend an fesselte ihn die Musik, im Alter von sechs Jahren gab
er seine ersten Konzerte. Sein Elternhaus, das 300 Jahre alte Pfarrhaus
von Fischbeck, befand sich gegenüber der Stiftskirche. Die
Klänge der dortigen Orgel waren die Klänge seiner frühen
Kindheit. Bereits im Alter von elf Jahren wurde er in Stellvertretung
für den zum Krieg eingezogenen Organisten selbst Stiftsorganist
in Fischbeck und blieb es bis zu seinem 19. Lebensjahr.
Wie Wilhelm Kempff, der in seiner Jugend ebenfalls als Organist
tätig war und den er später sehr gut kennenlernte, prägten
auch Jürgen von Oppen die-se frühen Erfahrungen an der
Königin der Instrumente und vor allem die Auseinandersetzung
mit den Werken Johann Sebastian Bachs. Sie legten ein unerschütterliches
musikalisches Fundament.
Ingeborg von Oppen, selbst eine hervorragende Pianistin und Ehefrau
von Jürgen von Oppen, erinnert sich augenzwinkernd daran,
wie in den Jahren des gemeinsamen Musikstudiums eine Typeneinteilung
unter den Studenten und Lehrern immer anhand der Frage vorgenommen
wurde: „Bist Du mit Bach aufgewachsen oder mit Mozart?“ Im
Falle von Jürgen von Oppen ließ sich diese Frage eindeutig
mit Bach beantworten, sein musikalischer Ausgangspunkt war und
blieb die „hohe Kunst dieses Urvaters der Harmonie“,
um eine Formulierung Beethovens aufzugreifen.
Glück hatte Jürgen von Oppen von Anfang an mit seiner
pianistischen Ausbildung. Schon als Kind erhielt er Unterricht
bei Erika Oppermann-Freidanck, einer Pianistin, die wie Claudio
Arrau bei dem Liszt-Schüler Martin Krause in Berlin studiert
hatte. Neben Orgel und Klavier spielte er in diesen Jahren auch
Geige und übte sich mit großer Leidenschaft in einer
Kunst, die für die Interpreten des 19. Jahrhunderts eine Selbstverständlichkeit
war, heute jedoch kaum mehr beherrscht wird: die Kunst der Improvisation.
Diese schöpferische Art zu musizieren hat sicher wesentlich
zu Jürgen von Oppens späteren Interpretationen und seinem
Werkverständnis beigetragen.
Im Jahre 1950 machte Jürgen von Oppen sein Abitur am Schiller-Gymnasium
von Hameln. Am Tage der Abiturfeier gab er einen Klavierabend – um
den Mitschülern eine Abiturreise zu ermöglichen. Ein
Jahr später begann seine Studienzeit.
Jürgen von Oppen entschied sich für ein Klavierstudium
bei der deutschen Cembalistin und Pianistin Edith Picht-Axenfeld
an der Musikhochschule in Freiburg im Breisgau. Verheiratet mit
dem Religionsphilosophen Georg Picht, war sie eine der großen
Bach-Interpretinnen und Pädagoginnen der Nachkriegszeit. Nach
vier Jahren schloss Jürgen von Oppen sein Studium bei ihr
mit einer Arbeit über „Die Sinfonien Ludwig van Beethovens“ ab.
Seine folgende Aufnahme in die Hochbegabtenförderung der Studienstiftung
des deutschen Volkes ermöglichte es ihm 1955 nach Wien zu
gehen – und zwar in die Meisterklasse des legendären
Bruno Seidlhofer. Immer wieder gibt es in der Geschichte der Hochschulen
Konstellationen, in denen sich in einem engen Zeitfenster die Elite
einer ganzen Generation an ein und demselben Ort begegnet, zusammen
in einer Klasse studiert, dem Beispiel eines verehrten Lehrers
folgt und sich gegenseitig zu Höchstleistungen inspiriert.
Dies war in Moskau in der Klasse von Heinrich Neuhaus der Fall,
in der sich unter anderem Svjatoslav Richter und Emil Gilels begegneten.
Und dies gilt auch für die Klasse von Bruno Seidlhofer an
der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien, in
der sich in den 50er- und 60er-Jahren Pianisten wie Friedrich Gulda,
Martha Argerich, Nelson Freire und Rudolf Buchbinder gegenseitig
im Unterricht zuhörten. In dieser Klasse lernte Jürgen
von Oppen auch 1957 seine spätere Ehefrau kennen, Ingeborg
von Oppen, die als junge Pianistin von Maria Landes-Hindemith aus
München nach Wien zu Seidlhofer gekommen war. 1958 legte er
in Wien seine Konzertreifeprüfung mit Auszeichnung ab, sein
Abschlusskonzert spielte er mit dem Orchester der Wiener Hochschule
für Musik und Theater unter der Leitung von Claudio Abbado – der
damals selbst noch Student in Wien war. Es folgte die Teilnahme
an zahlreichen internationalen Wettbewerben, unter anderem dem
Internationalen Chopin-Wettbewerb in Warschau im Jahre 1960. Obwohl
erfolgreich, bedeuteten ihm Wettbewerbe als eine Form äußeren
Erfolgs nicht wirklich etwas, man fühlt sich ein wenig erinnert
an Beethovens Äußerung gegenüber Gering: „Ich
habe niemals daran gedacht, für den Ruf und die Ehre zu schreiben:
Was ich auf dem Herzen habe, muß heraus und darum schreibe
ich.“
Zeitlebens rang Jürgen von Oppen um den inneren Gehalt der
Werke. Dieser war ihm weit wichtiger als die Technik, die für
ihn bloß eine unabdingbare Voraussetzung für musikalischen
Ausdruck für ihn darstellte. Oft sprach Jürgen von Oppen über
die Werke, bevor er sie spielte, und nahm somit die moderne Form
des Gesprächskonzertes vorweg, um seinen Zuhörern noch
mehr vom musikalischen Inhalt und den Geheimnissen künstlerischen
Schaffens nahe zu bringen.
Heilende Musik
„Musik als etwas Heilendes, das den Menschen gründlich läutern
und erheben sollte und letztlich als Vorbereitung auf den Tod,
das war sein Anliegen und das gab er mir mit. Aus dieser Geisteshaltung
heraus spielte er auch seine Konzerte. Ich habe ihn mit großartigen
Beethoven-Abenden erlebt. Mit dessen Musik, Biographie und Gedankenwelt
war er auf das Innigste verbunden.“ Mit diesen Worten erinnert
sich Angela-Charlott Bieber an ihren einstigen Lehrer.
Jürgen von Oppen machte sich insbesondere um das Spätwerk
Beethovens, etwa die Sonate op. 90, die „Große Sonate
für das Hammerklavier“ op. 106 und die Sonate op. 111
verdient, die zu seinem künstlerischen Kernrepertoire gehörten.
Aber auch der unbekanntere Beethoven interessierte ihn: der Humor
Beethovens, seine Ironie, seine Spielfreude. So hielt Jürgen
von Oppen 1970 auf dem großen internationalen musikwissenschaftlichen
Kongress anlässlich des 200. Geburtstages von Beethoven in
Bonn einen Vortrag über ein Werk
Beethovens, das bis heute eher selten zu hören ist: die Klavierfantasie
op. 77. In einer brillanten Analyse zeigte Jürgen von Oppen
die Bezüge zum im gleichen Jahr entstanden 5. Klavierkonzert
von Beethoven auf und schaute dem Improvisator Beethoven und seiner
musikalischen Ironie mit einem Lächeln über die Schulter.
Im Jahre 1962 wurde Jürgen von Oppen Lehrer am Richard-Strauss-Konservatorium
in München. Er blieb es bis zum Jahre 1991. Dessen heutiger
Direktor und Präsident des deutschen Musikrates Martin Maria
Krüger spricht in Erinnerung an Jürgen von Oppen von
der außergewöhnlichen „Noblesse seines Charakters“,
seine Schüler erinnern sich an ihn als einen „bescheidenen
und vollkommen der Sache dienenden Menschen und Musiker“.
Am Unterrichten lag ihm viel, er wollte seinen Studenten Bedeutendes
mitgeben. Musik betrachtete er als etwas, das den ganzen Menschen
angeht, und dies vermittelte er in seinem Unterricht.
Schon in der ersten Unterrichtsstunde, so erzählt Eva Schieferstein,
ehemalige Schülerin und jetziges Mitglied des Münchener
Flötentrios, habe ihr Jürgen von Oppen dringend die Lektüre
von Eugen Herrigels Buch „Zen in der Kunst des Bogenschießens“ ans
Herz gelegt. Es ging ihm um die Vertiefung der Konzentration, das
Loslassen von einer Ichbezogenheit, die das Interpretentum auch
oft mit sich bringt. „Es muss heißen ‚es spielt‘,
nicht ‚ich spiele‘“, sagte Jürgen von Oppen
immer wieder. Den geistesgeschichtlichen Hintergrund der Werke
zu kennen hielt er für unabdingbar. Seine Schüler forderte
er auf, sich mit Shakespeares „The Tempest“ auseinanderzusetzen,
wenn sie Beethovens sogenannter Sturm-Sonate einstudierten, die
Biographien der Komponisten zu kennen, ihre Briefe zu lesen. An
eine Atmosphäre menschlicher Geborgenheit erinnern sich die
Schüler, wenn sie an die Konzerte im Hause Ingeborg und Jürgen
von Oppen zurückdenken. Konkurrenzdenken spielte keine Rolle,
es ging um die gemeinsame Begeisterung für die Musik. Aus
diesem Grunde lag Jürgen von Oppen auch viel daran, dass seine
Schüler viel Kammermusik machten. Eine schwere und jahrzehntelange
Krankheit machte ihm nach dem Konzertieren aber schließlich
auch das Unterrichten unmöglich. Schon in den 1960er-Jahren
traten erste Lähmungen auf. Lange hoffte man, dass nicht wahr
sei, was sich dann doch als wahr herausstellte: Es handelte sich
um Multiple Sklerose. Lange arbeitete Jürgen von Oppen noch
als Pianist und Hochschullehrer, aber schließlich ging es
nicht mehr. In den letzten Jahren, in denen er nicht mehr das Haus
verlassen konnte, wurde es still um ihn. Kraft dieses Leiden zu
erdulden schöpfte Jürgen von Oppen aus der Hingabe seiner
Frau, die ihn bis zuletzt pflegte und die ihm die gemeinsame Liebe
zur Musik tagtäglich zum Geschenk machte durch gemeinsames
Musikhören und Gespräche über die Musik.
„Musik ist höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie … Wem
meine Musik sich verständlich macht, der muß frei werden
von all dem Elend, womit sich die andern schleppen“ hat Beethoven
geschrieben. Diese Freiheit hat Jürgen von Oppen für
sich, seine Schüler und seine Zuhörer errungen.