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2007/10 | Seite 11
56. Jahrgang | Oktober
Praxis: Konzertvermittlung
Wo Picasso und Bacon auf Bartók und Boulez treffen
Moderne zum Anfassen: Sechs Beispiele wie man in Luzern Neue
Musik aufführt · Von Andreas Kolb
Als Intendant Michael Haefliger vor sieben Jahren – 52 Jahre
nach dem legendären Gründungskonzert Toscaninis in Luzern-Tribschen – die
Internationalen Musikfestwochen Luzern in Lucerne Festival umbenannte,
betrieb er damit nicht nur Namenskosmetik. Unter seiner Federführung
hat sich das Festival in herausragender Weise dem zeitgenössischen
Repertoire angenommen. Haefliger und der zuständige Dramaturg
für die Moderne, Mark Sattler, denken bei der Programmgestaltung
von Beginn an immer auch an die Vermittlung – Ziel ist es,
die gewohnte Form des bürgerlichen Musikkonzertes weiter zu
entwickeln. 2004 konnte dann die Lucerne Festival Academy unter
der künstlerischen Leitung von Pierre Boulez aus der Taufe
gehoben werden. Dem Lucerne Festival gelingt damit der Spagat,
ein glanzvolles Repräsentationsfestival und gleichzeitig ein
Mekka für die Moderne zu sein. Auch in diesem Sommer gab es
wieder bemerkenswerte Beispiele progressiver Vermittlung zeitgenössischer
Musik.
Konzertvermittlung beginnt bei der Auswahl der Künstler: Lädt
man den Dirigenten Sir Jonathan Nott als Artist étoile – wie
2007 geschehen – ein, dann verbindet er schon in seiner Person
in idealer Weise Tradition und Moderne sowie Musik mit der Kunst
ihrer Vermittlung. Nott war von 1997 bis 2002 Chefdirigent des
Luzerner Festspielorchesters und 2000 bis 2003 Chef des Ensemble
Intercontemporain. So fanden sich in den Programmen mit seinen
Bamberger Sinfonikern Wagners Rheingold genauso wie Werke von Isabel
Mundry, György Ligeti und Peter Eötvös. Konzertvermittlung
heißt für Nott auch unorthodoxe Programmkonzeption:
Mit Richard Strauss’ Alpensinfonie nahmen er und die Bamberger
zum Beispiel Kinder und Jugendliche aus dem Kanton Luzern mit auf
eine musikalische Alpenwanderung, das Publikum im Late Night Konzert
dagegen setzte sich – ganz dem Programm mit Holsts „Planeten“ und
John Williams Star Wars-Epos entsprechend – hauptsächlich
aus Trekkies und Star Wars-Fans zusammen. Diesen empfahl sich Nott
als unterhaltsamer Moderator und profunder Star-Wars-Kenner.
Karlheinz Stockhausens „Gruppen“, einer der Klassiker
der Moderne, was Rauminszenierung anbelangt, stand im Mittelpunkt
eines Konzertes des Academy-Orchesters. Boulez, der im März
1958 die Uraufführung zusammen mit dem Komponisten und Bruno
Maderna dirigiert hatte, beließ es nicht bei einer einmaligen „konventionellen“ Aufführung
durch drei Dirigenten und drei Orchester. Die drei Orchester führten
das halbstündige Werk an einem Abend zweimal auf, einmal dirigiert
von Teilnehmern des Dirigier-Meisterkurses von Peter Eötvös,
einmal von den Meistern selber: Peter Eötvös, Jean Deroyer
und Pierre Boulez. Unterbrochen war dieses vergleichende Hören
durch ein Podiumsgespräch mit Boulez, Eötvos und der
Stockhausenforscherin Imke Misch unter der Moderation des DRS-Redakteurs
Andreas Müller-Crepon.
Anekdoten über die Uraufführung und Informationen zur
Komposition verschafften dem Publikum einen authentischen Einblick
in das Werk, seine Geschichte, seine Bauweise und die daraus resultierenden
Besonderheiten der Aufführung. Zu bestaunen waren neben Stockhausens „Gruppen“ – die
immer dann am faszinierendsten klingen, wenn Stockhausen den strengen
Serialismus für kurze Zeit außer Kraft setzt und seiner
Intuition folgt – drei junge Dirigenten: Hsiao-Lin Liao,
Pablo Heras-Casado und Kevin John Edusei führten das Orchester
sicher und inspiriert durch Raum und Klang. Souverän auch
das in drei Mal 40 Musiker geteilte Academy-Orchester – hier
waren die zukünftigen Botschafter der Moderne bereits zu hören.
Wieder eine andere Form der Musikvermittlung praktizierte Boulez
bei der Aufführung von „Sur Incises“ für
drei Klaviere, drei Harfen und drei Schlagzeuge durch ihn und Studenten
der Festival Academy. (Siehe DVD-Rezension „Tonsetzer, filmisch
in Szene gesetzt“ nmz 7/8-07) Auf Anfrage von Bruno Maderna
schrieb Boulez 1994 das Klavierstück „Incise“ für
den Klavierwettbewerb concours Umberto Micheli à Milan.
Bevor das Stück erklang, erläuterte er wie er dann zwei
Jahre später die Paraphrase beziehungsweise Erweiterung „Sur
Incises“ komponiert hatte.
Noch einmal vollzog er vor dem Auditorium nach, was ihn zu der
nicht alltäglichen Besetzung von drei mal drei „ausklingenden“ Instrumenten
Klavier, Harfe und Schlagzeug motivierte. Aus einem Klavier machte
er zunächst drei, inspiriert von Strawinskys Concerto für
zwei Klaviere solo. „Noch nicht sehr originell“, dachte
Boulez und ergänzte die Klaviere um die Kombination mit Harfe.
Auch hier brauchte Boulez drei Instrumente, unter anderem auch
deshalb, damit die Harfen schnell genug chromatisch spielen konnten. „Das
war nicht genug, und ich dachte jetzt an die Sonate für zwei
Klaviere und Schlagzeug von Bartók, wo dieser die Klaviere
mit Schlagzeug oder Pauken oder Xylophon kombiniert“. Boulez
nahm also drei Schlagzeuger, die Instrumente mit Tonhöhe spielten.
Jetzt konnte er wunderbar abwechslungsreich zwischen den Ensembles
kombinieren: vom homogen Klang bis zu den unterschiedlichsten Kombinationen.
Boulez erfand für „Sur Incises“ das Format Trio
gewissermaßen neu. Eine Vorgehensweise, die Boulez seit jeher
auszeichnet: Er komponiert nicht für Ensembles, er formt die
Ensembles nach seinen kompositorischen Ideen. „Incises“,
das meint wörtlich übersetzt Intarsien. Unter diesen
Einlegearbeiten verstand Boulez schnelle Motive, die in eine Textur
eingestreut sind. Wie er diese schnellen Passagen vergrößert,
ausweitet und mit seinem dreifachen Instrumentarium ganz anders
zum Klingen bringt als bei der ursprünglichen Klavierfassung,
das demonstrierte er bei einem ausführlichen Vortrag im vollbesetzten
Luzerner Saal.
Musikvermittlung ist Programmgestaltung: Pierre-Laurent Aimard,
neben Jonathan Nott der zweite Artist étoile dieses Luzerner
Sommers, hat etliche der waghalsigen Etüden György Ligetis
uraufgeführt. Seine Ligeti-Konzert-abende sind legendär.
Fürs Lucerne Festival programmierte er einmal anders: Zwischen
sechs ausgewählten Etüden Ligetis platzierte er welche
von Debussy, Chopin, Rachmaninow, Liszt, Messiaen, Bartók
und Skrjabin: die Ligetischen Fingerübungen erschienen so
in neuem Licht, konnten aus ganz anderer Perspektive gehört
werden. So kann Musikvermittlung ohne ein einziges Wort der Erklärung
funktionieren.
Noch ein Konzert verdient unter dem Vermittlungsaspekt besondere
Erwähnung: Pablo Picasso und Francis Bacon haben sich realiter
nie getroffen. Peter Fischer, Direktor des Kunstmuseums Luzern,
brachte die Künstler in einer Ausstellung des Kunstmuseums
Luzern gewissermaßen erstmals zusammen. Eine Begegnung, die
auch Katharina Rengger, Leiterin der Lucerne Festival Academy,
zu einem Konzert ihrer Akademisten im Kunstmuseum inspirierte.
Die jungen Musiker spielten in diversen Kammerbesetzungen Werke
von Béla Bartók, Sandor Veress, György Ligeti
vor den Bildern von Bacon und Picasso. Raus aus dem Konzertsaal – hinein
in neue, unübliche Aufführungsräume, wo sich plötzlich
ein anderes Publikum einfindet, auch das ist moderne Musikvermittlung.
Als letztes Beispiel mag der öffentliche Meisterkurs von Peter
Eötvös an der Musikhochschule Luzern dienen. Wie jedes
Jahr nutzten Konzertbesucher die Möglichkeit eines derart
intimen Einblicks in die Werkstatt eines Komponisten. Eötvös
probte mit den Luzerner Studenten sein Kammermusikwerk. Spielweisen
neuer Musik kennen lernen, jüngere Musikgeschichte hören,
das Entstehen eines Kunstwerks während der Proben hautnah
verfolgen, sowie die Möglichkeit persönlicher Gespräche
mit Interpreten und dem Meister waren weitere Beispiele, was die
Vermittlung Neuer Musik heute alles sein kann.
Die beschriebenen Varianten von Musikvermittlung sind jede für
sich genommen nicht spektakulär. In Anbetracht der Sperrigkeit
neuer Musik und der beinahe selbstverständlichen Verflechtung
von Werk und dazugehöriger Vermittlungs- und Präsentationsidee
ist das Ganze der Luzerner Musikvermittlungspraxis mehr als die
Summe seiner Teile.