[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2007/10 | Seite 28
56. Jahrgang | Oktober
DTKV Bayern
Ehrungen, Wandlungen, letzte Worte
Zum Tode von Ruth Zechlin · Von Dirk Hewig
Am 4. August 2007 ist Frau Professor Ruth Zechlin, Ehrenmitglied
des Passauer Tonkünstlerverbandes und dem Landesverband Bayerischer
Tonkünstler in ihrem Wirken eng verbunden, verstorben. Der
Landesverband hat der international anerkannten Komponistin, die
auch als Organistin, Cembalistin und langjährige Hochschullehrerin
hohes Ansehen genoss, einen eigenen Band in seiner Monographienreihe „Komponisten
in Bayern“ gewidmet. Aus Anlass ihres 80. Geburtstages hat
der Landesverband ein Festkonzert im Münchener Gasteig veranstaltet,
bei dem die Komponistin am Cembalo ein Fragment von Johann Sebastian
Bach und anschließend eine von ihr ergänzte Fassung
spielte. Im Rahmen dieses Konzertes hielt der Vorsitzende des Landesverbandes,
Dr. Dirk Hewig, die nachfolgende Laudatio (leicht gekürzt):
In diesem Jahr feiert die musikalische Welt den 250. Geburtstag
von W.A.Mozart. Die Festakte am 27. Januar, dem Geburtstag Mozarts,
die Mozartfeste an verschiedenen Orten, die Aufführung aller
22 Bühnenwerke Mozarts bei den Salzburger Festspielen und
vieles andere, was uns von und über Mozart präsentiert
wurde und wird, stehen uns lebhaft vor Augen. Dabei vergessen wir
allzu leicht, dass Mozart zu seiner Zeit neue Musik schrieb, Musik,
die oftmals die Hörgewohnheiten seiner Zuhörer überstieg
und sie verstörte. Mozart kann deshalb – gerade auch
in diesem Jahr – Anreger und eine Brücke zur neuen,
zeitgenössischen Musik sein.
Neue Musik komponiert Frau Prof. Ruth Zechlin, die am 22. Juni
dieses Jahres ihr 80. Lebensjahr vollendet hat. Frau Zechlin hat
aus Anlass des Mozartgedenkjahres auch ein Stück „Dank
an Wolfgang Amadeus Mozart“ komponiert, eine Auftragsarbeit
der Festspiele Europäische Wochen Passau, die in diesem Jahr
beim Festival in Passau uraufgeführt wurde. Aber nicht Mozart,
dessen 250. Geburtstag mit dem runden Geburtstag von Ruth Zechlin
zusammenfällt, sondern ein anderer Großer, der sie von
Kindheit auf begleitet hat, stand im Mittelpunkt ihres Denkens
und Schaffens: Johann Sebastian Bach. „Bach ist und bleibt
mein Zentrum,“ bekennt Ruth Zechlin in einem Interview, „ich
wuchs mit Bach auf.“ Und damit wären wir schon bei ihrer
Vita.
1926 in Großhartmannsdorf bei Freiberg in Sachsen geboren,
siedelte ihre Familie bereits 1928 nach Leipzig über. Ab dem
5. Lebensjahr erhielt sie Klavierunterricht, mit sieben schrieb
sie ihre erste Komposition. Bei ihrer Klavierlehrerin spielte sie
zusammen mit anderen Schülern auf mehreren Instrumenten Werke
von Bach. Regelmäßig besuchte sie die Kantaten- und
Motteten-Aufführungen in der Thomaskirche. Von 1943 bis 1949 – mit
kurzer Unterbrechung am Kriegsende – studierte Ruth Zechlin
an der Hochschule für Musik Leipzig neben Klavier Komposition
bei Johann Nepumuk David und Wilhelm Weissmann und – zusammen
mit Karl Richter – Orgel bei dem Thomaskantor Karl Straube
und dessen Nachfolger Günter Ramin. Nach dem Abschlussexamen
zunächst als Nachwuchsdozentin an der Leipziger Hochschule
tätig, erhielt sie 1950 eine Dozentur für Tonsatz an
der neu gegründeten Deutschen Hochschule für Musik Berlin.
Es folgte 1969 eine Professur für Komposition an der Hochschule
für Musik Hanns Eisler Berlin. 1970 wurde Frau Zechlin in
die Akademie der Künste der DDR gewählt, wo sie eine
Meisterklasse für Komposition leitete. Gleichzeitig konzertierte
sie als international gefragte Organistin und Cembalistin vorwiegend
mit altenglischer Musik, Werken Johann Sebastian Bachs und eigenen
Kompositionen. Nach ihrer Emeritierung im Jahr 1986 nahm sie Gastprofessuren
wahr. Sie war von 1990 bis 1993 Vizepräsidentin der Akademie
der Künste Berlin Ost, seit 1993 ist sie ordentliches Mitglied
der vereinigten Akademien von Ost- und West.
Die Zahl der Ehrungen, die sie erhielt, ist kaum überschaubar:
zahlreiche Kunst- und Musikpreise der ehemaligen DDR und aus dem
Ausland, Ehrenmitgliedschaft des Deutschen Musikrats, Verdienstkreuz
1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, Bayerischer
Maximiliansorden.
Frau Professor Zechlin war und ist – auch mit wachsendem
Alter – stets bereit, zu neuen Ufern aufzubrechen. 1991 siedelte
sie zu Ihrer Tochter nach Griesbach/Niederbayern und folgte ihr
anschließend nach Pfaffenhofen/Oberbayern. 2002 nahm sie
ihren Wohnsitz in Passau. Hier entwickelte sie in Verbindung mit
den Europäischen Festspielen umfangreiche kompositorische
Aktivitäten. So entstand als Auftragswerk der Festspiele „Tryptichon
2000“, das am 28. Juli 2000, an Bachs 250. Todestag, vom
Polnischen Radio-Sinfonieorchester im Passauer Dom uraufgeführt
wurde. Gleichzeitig wandte sie sich wieder verstärkt dem Cembalo
und der Orgel zu. Am 8. November 1999 schrieb sie mir: „Wie
Sie sehen können, bin ich zu meinem ,Ur‘-Instrument,
der Orgel, zurückgekehrt und übe wieder fleißig.“ So
gab sie im Rahmen der Europäischen Wochen im Passauer Dom
Orgelkonzerte. Auf zahlreichen CDs, in Rundfunk- und Fernsehaufnahmen
ist sie als Interpretin eigener und insbesondere der Werke Bachs
zu hören.
Aber auch in Passau hielt es Ruth Zechlin nicht. Seit diesem
Jahr lebt sie in München in einer Wohnung an der Grünwalder
Strasse, in der sie in einer künstlerisch gestalteten Umgebung
auf einer eigenen Orgel übt und sich an ihrem Schreibtisch
vielen kompositorischen Aufgaben und Plänen widmet.
Ruth Zechlin zählt heute international zu den bedeutendsten
und produktivsten Komponistinnen. Ihr Werkverzeichnis, das sie
für die vom Landesverband Bayerischer Tonkünstler 2001
herausgegebene Monographie zusammengestellt hat, weist Orchesterwerke,
Vokalwerke und Kammermusik, außerdem Opern und Ballette,
Fernseh-, Film- und Hörspielmusik auf. Ihre Werke wurden und
werden von bekannten Orchestern und Solisten aufgeführt und
sind in Rundfunk- und Fernsehaufzeichnungen und auf zahlreichen
CDs zu hören.
Wie in ihrem Leben, hat Ruth Zechlin auch in ihrem Werk manche
Wandlung durchgemacht. Ihren Kompositionsstil charakterisiert sie
selbst wie folgt: „Am Anfang schrieb ich „freitonal“,
also mit den Formen der Tradition verbunden (etwa bis 1960). Dann
konnte ich endlich für mich die Zwölftontechnik studieren,
die mir durch die Bachsche Kontrapunktik sofort vertraut erschien.
Dabei war es besonders wichtig für mich, keine „Stil-Kopien“ vorzunehmen,
sondern vielmehr die „atonalen“ Möglichkeiten
meinen eigenen kompositorischen Vorstellungen „einzufunktionieren“ (etwa
bis 1970)... Die serielle Musik faszinierte mich, weil die „Ordnung“ in
der Musik, die auch mein Zentrum darstellt, ab 1971 auf alle Parameter
erweitert wurde. Und inzwischen handhabe ich alle diese Möglichkeiten
so frei und souverän – wie es geht – unter Einbeziehung
anderer Kompositionstechniken wie Aleatorik, Klangbänder,
Cluster, Geräusche.“
In den 90er-Jahren, wohl angeregt durch ihren Übertritt zur
katholischen Kirche und durch ihren Mentor und Freund, den damaligen
Passauer Bischof und jetzigen Altbischof Dr. Franz Xaver Eder,
wandte sie sich verstärkt der geistlichen Musik zu. 1996 entstand
das Orgelstück „Sieben letzte Worte Jesu am Kreuz“,
bei dessen Uraufführung in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
Berlin Walter Jens selbst die Texte las. Jens äußerte
sich dazu: „Belebt durch Ruth Zechlins Musik und die Interpretamente
ihrer Graphiken hörte ich die ‚Sieben Worte‘ plötzlich
so intensiv wie nie zuvor, stellte Fragen und fühlte mich
bestätigt.“
In den Jahren 1995 bis 1998 entstanden verschiedene Werke unter
dem Titel „Geistige Kreise“, die die Komponistin auf
der Orgel teilweise selbst vorstellte. Eines ihrer letzten Werke,
die anlässlich des 80. Geburtstages von Altbischof Eder komponierte „Missa
in honorem Sancti Stephanie“, wurde im November 2005 in St.
Peter in Passau unter lebhafter Zustimmung der musikinteressierten Öffentlichkeit
und der Presse uraufgeführt. Die verstärkte Hinwendung
zur geistlichen Musik bedeutete aber nicht, dass sich Frau Zechlin
darauf beschränkte. So überraschte sie 2005 mit der Oper „Elissa“,
die nach einem Libretto von Hellmut Matiasek vom Südostbayerischen
Städtetheater in Passau uraufgeführt wurde.
Ich persönlich durfte Frau Professor Zechlin, vermittelt durch
den seinerzeitigen Präsidenten der Münchener Musikhochschule,
Prof. Diethard Hellmann, bereits in den 80er-Jahren in München
kennen lernen. Schon damals hat mich ihre Wachheit, ihre umfassende
Bildung, ihre Offenheit für neue geistige Strömungen,
ihre zupackende und zugleich verständnisvolle Art beeindruckt.
Ich durfte dann ihren Neuanfang in Bayern, in Griesbach, Pfaffenhofen,
Passau und nunmehr München mitverfolgen. Unvergessen ist für
mich eine Auftragskomposition des Münchener Kammerorchesters
an Frau Zechlin für Schlagzeug und Streicher, die in den 90er-Jahren
im Münchener Herkulessaal ihre Uraufführung erlebte.
Zahlreiche Aufführungen von Werken Zechlins in Passau, Scheyern
und München, aber auch ihr virtuoses Orgel- und Cembalospiel
haben sich mir eingeprägt.
Erwähnt werden soll noch, dass sich Ruth Zechlin als langjährige
Hochschullehrerin in ihrem Unterricht, in Workshops, Kursen, Vorträgen,
Aufsätzen und Interviews mit großem persönlichen
Engagement und Erfolg für die Akzeptanz zeitgenössischer
Musik und die Förderung lebender Komponisten und junger Interpreten
eingesetzt hat.
So war ich nach Übernahme des Vorsitzes im Landesverband Bayerischer
Tonkünstler dankbar und erfreut, dass wir Frau Professor Zechlin
zunächst als Ehrenmitglied für den Passauer Tonkünstlerverband
und dann auch für eine Mitwirkung im Landesverband gewinnen
konnten.