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nmz-archiv
nmz 2007/10 | Seite 26
56. Jahrgang | Oktober
Jeunesses Musicales Deutschland
Liegt die Zukunft der Klassik in Venezuela?
Gedanken und Nachdenkliches zu einem kulturellen Phänomen
Vom 21. bis 28. August war das Simón Bolívar Youth
Orchestra of Venezuela wieder auf Einladung der JMD in Deutschland.
Bis 6. September schloss sich die erste Tournee des Venezuelan
Brass Ensembles unter Leitung von Thomas Clamor an. Nachdem die
JMD das venezolanische Jugendorchestersystem vor über 10 Jahren „entdeckt“ hatte,
führten bald Tourneen des nationalen Kinder- und Jugendorchesters
in den Jahren 2000 und 2002 zu einer Wahrnehmung dessen, was in
Venezuela seit 1975 an landesweiter systematischer Musikerziehung
geleistet wird. Bis heute erreicht das „Sistema“ über
eine Viertelmillion Kinder und Jugendliche. Das bedeutet eine Basis,
auf der auch eine Spitze wachsen kann. Claudio Abbado wurde aufmerksam,
die Berliner Philharmoniker wurden Paten. Aufsehen erregte der
Kontrabassist Edicson Ruiz, der sich als bislang jüngstes
Mitglied der Berliner eine Lebensstellung erspielte. Sir Simon
Rattle ließ sich bei seinem Erstbesuch in Caracas zu der Äußerung
hinreißen, er habe „in Venezuela die Zukunft der Klassischen
Musik gesehen“.
Was ist dran an diesem Orakel? Was fasziniert uns so sehr an „Klassik à la
Caracas“? Einmal ganz abgesehen von der Faszination, dass
ein einziger Mann, José Antonio Abreu, Träger des alternativen
Nobelpreises, es geschafft hat, eine Vision umzusetzen, eine nationale „accion
social“ auf der Basis des Instrumental- und vor allem des
Orchesterspiels aufzuziehen. Dies ist als eine pädagogische
und politische Leistung recht früh auch bei uns rezipiert
worden, vor allem, als spätestens seit der Bastian-Studie
die Transferkompetenzen diskutabel wurden, die durch intensives
Musiklernen ausgelöst werden (können): dass Musik eben
ein ideales Medium der Persönlichkeitsbildung, der Ausbildung
von Kreativität, Problemlösungs- und Methodenkompetenz
bis hin zum positiven Sozialverhalten sein kann. Dass
dies auch eine gesellschaftspolitische Dimension hat, ahnte man
seit des Bundesinnenministers Otto Schily legen-därem Satz,
wer Musikschulen schließe, gefährde die Innere Sicherheit.
Da griff man einen derart realen Wirkungszusammenhang, wie er in
den Barrios der venezolanischen Großstädte zweifellos
greifbar ist, umso begieriger auf. „Gitarre statt Knarre“ – was
in Caracas funktioniert, müsste doch auch für verwahrloste
und gewaltbereite Jugendliche in Berlin oder Hamburg zutreffen.
Und so erschien dann auch im 150 Seiten starken Pressespiegel der„Power
of Music“-Tournee 2005, die von der JMD gemeinsam mit der „für
eine zukunftsfähige Gesellschaft“ antretenden Bertelsmann
Stiftung präsentiert wurde, diese Facette am signifikantesten
mit der Titelzeile „das Wunder von Caracas“ zum Ausdruck
gebracht – ein Wunder, indes, ist etwas, was man nicht begreifen
kann. Und nachdem Bundespräsident Johannes Rau in seinen letzten
Amtsjahren auch viel Lobbying für die persönlichkeitsbildenden
Wirkungen der Musik leistete und des Deutschen Musikrats Initiative „Musik
bewegt“ unterstützte, hat sich auch einiges bewegt in
Deutschland.
Etwas anderes zeichnete sich 2005 auch schon ab: Der Durchbruch
der Jungen Philharmonie Venezuela auf dem Musikmarkt – ausverkaufte
Konzertsäle und begeisterte Kritiken. „So fix, so frech,
so fabelhaft“ fabulierte die Bremer Nordsee-Zeitung und die
BZ witterte „Frischen Wind aus Fernwest“. Als Gustavo
Dudamel gar den Gustav-Mahler-Dirigierwettbewerb gewann, ging ein
neuer strahlender Stern auf am Dirigentenhimmel. Seither haben
er und das Orchester eine internationale Agentur und einen Plattenvertrag
bei Deutsche Grammophon. Dieser „Hype“ grundierte denn
auch die aktuelle „ZukunftsMusiker“-Tournee 2007. Den
Ausverkaufsrekord stellte das Bonner Beethovenfest mit wenigen
Stunden nach Eröffnung des Vorverkaufs auf. Zehntausende Konzertbesucher
applaudierten frenetisch dem inzwischen erwachsen gewordenen Orchester,
dem man die schwarzen Fräcke fast eher abnimmt als die Jacken
in den bunten Landesfarben. Damit einher geht freilich eine andere
Tendenz der Kritik. Es gibt da inzwischen kühlere Köpfe,
wie etwa das FAZ-Feuilleton, das den „nach Erneuerungskuren
gierenden Klassikbetrieb voll Heilserwartung auf die Wundertruppe“ blicken
sieht, die ihm „den überlebensnotwendigen Frischekick
verpassen“ soll. Und die Maßstäbe des ästhetischen
Urteils verschieben sich entsprechend den gewachsenen eigenen Ambitionen.
Doch wurde auch erfreulich viel über die Basisarbeit und ihren
sozialen Impetus geschrieben. Die JMD hatte sich hier in ihrer
Pressearbeit und mit zahlreichen Einführungsveranstaltungen
sowie mit einer informativen Tourneebroschüre ins Zeug gelegt.
Ein Symposion „Unsere Zukunft – Musik“, zu dem
die JMD gemeinsam mit der Philharmonie Essen eingeladen hatte,
stellte neben dem venezolanischen Sistema gleich vier aktuelle
deutsche Initiativen zur Diskussion: Ist es „Zeit für
einen musikpädagogischen Aufbruch?“ fragten sich rund
100 Fachkundige aus Musikleben, Politik und Gesellschaft. Aber
die Zeit ist auch in Deutschland überreif für das Thema.
In Nordrhein-Westfalen hat sich gar die Landesregierung aufgemacht, „eine
Modellregion nach dem Vorbild Venezuelas“ zu schaffen: Kulturstaatssekretär
Grosse-Brockhoff stellte die Initiative „Jedem Kind ein Instrument“ vor,
die bis 2010, wenn das Ruhrgebiet Kulturhauptstadt Europas wird, über
200.000 Grundschulkinder ans Instrument und ins Orchester gebracht
haben soll, wofür insgesamt immerhin 50 Millionen verausgabt
werden. Konzerthäuser wie die Essener Philharmonie initiieren
qualifizierte musikalische Stadtteilprojekte mit sozial benachteiligten
Kindern – wie Intendant Michael Kaufmann am Beispiel von „ReSonanz
und AkZeptanz“ aufzeigte. Die öffentlichen Musikschulen,
für die Ulrich Rademacher als Vorstandsmitglied des VdM sprach,
erweitern ihr Spektrum durch Kooperationsprojekte in Richtung KiTas
und Grundschulen mit elementaren Angeboten und Klassenmusizieren.
„ZukunftsMusiker“ heißt eine Initiative, die aus der
Wirtschaft kommt. Götz Werner, Gründer von dm-drogeriemarkt,
ermöglicht Kindern aller Gesellschaftsschichten bereits seit
2006 spielerisch attraktive Zugänge zum Instrument in der Überzeugung,
damit Schwellenängste abzubauen, Schlüsselerlebnisse
zu vermitteln und Impulse zu geben, die zu einem längerfristigen
Instrumentalunterricht führen. „ZukunftsMusiker“ arbeitet
dafür mit freiberuflichen Musikpädagogen ebenso zusammen
wie mit den öffentlichen Musikschulen, wo es kostenlose Schnupperkurse
gibt, oder mit den Blasmusikvereinen, die kostenlose Probemitgliedschaften
anbieten. Auch das Klingende Mobil von Gerd Albrecht ist bundesweit
im Einsatz, in den Filialen werden Instrumente gebastelt und Konzerte
gegeben. Die soziale Kulturarbeit in Venezuela ist auch Vorbild
für die dm-Initiative „ZukunftsMusiker“. Aus diesem
Grund engagierte sich das Unternehmen nicht allein als Sponsor
der diesjährigen Tournee der venezolanischen Spitzenorchester,
sondern auch als Kommunikationspartner mit einem millionenfachen
Adressatenkreis.
Dass es Zeit für einen neuen musikpädagogischen Aufbruch
ist, ist unübersehbar: Viele sind bereits aufgebrochen, um
neben und in den Strukturen unserer Musikausbildungssysteme Krusten
aufzubrechen und neue Chancen zu suchen. Was wir dabei von Venezuela
lernen können, wird uns noch eine Weile beschäftigen.
Zu differenziert und unvergleichbar sind die Verhältnisse
hüben wie drüben, zu vielschichtig der Fragenkomplex,
zu breit gefächert die möglichen Wertungen. Aber wenn
wir im Gespräch bleiben darüber und – auch das
signalisierte das Symposion – zusammenwirken anstatt neu
erschlossene Ressourcen zu verstreuen, dann ist das doch schon
was. Auch hierzulande hat die Klassische Musik eine Zukunft.