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nmz-archiv
nmz 2007/10 | Seite 30
56. Jahrgang | Oktober
Jugend musiziert
„Ausschaltung“ der wirklich neuen Musik?
Offener Brief an ”Jugend musiziert“
Sehr
geehrter Herr von Gutzeit,
mit einem gewissen Entsetzen habe ich
bei der Ausschreibung für
den Wettbewerb 2008 festgestellt, dass die bisher geltenden Bedingungen
(Vorspiel von Originalwerken und einem Werk aus dem 20./21. Jahrhundert)
aufgeweicht beziehungsweise gestrichen wurden. Damit wird von den
Funktionären – gewissermaßen mit einem Federstrich – die
jahrzehntelange Arbeit von Komponisten, Interpreten und Pädagogen
zunichte gemacht!
Aus meiner über 30-jährigen Tätigkeit als Juror
auf den verschiedenen Ebenen des Wettbewerbs kann ich mir lebhaft
vorstellen, was jetzt passiert: Pianisten und Streicher werden
in Klassik und Romantik schwelgen und bei der Blockflöte (und
anderen „Randinstrumenten“) wird ein Barockstück
und dann noch eine der vielen zweifelhaften Bearbeitungen das Vorspielprogramm
bilden.
Wenn ich dann noch lese, dass in Zukunft auch Keyboard, E-Gitarre
und Pop-Gesang in das Wettbewerbsprogramm aufgenommen werden sollen,
scheint mir der Weg in Richtung „Deutschland sucht den Superstar“ (unter
Beteiligung der freien Sendeanstalten zur Volksverdummung) nicht
mehr weit zu sein. Das wäre nun noch nicht so schlimm, wenn
diese neue Regelung nicht auch enorme negative Auswirkungen auf
die Unterrichtssituation an Musikschulen und im Privatunterricht
hätte. Hier wird die „Ausschaltung“ der wirklichen
Neuen Musik weitreichende Folgen für unsere gesamte Musikkultur
haben. Viele Lehrer und Schüler werden es nun nicht mehr für
notwendig erachten, sich mit der Kunst der Gegenwart auseinander
zu setzen und lieber auf billige Surrogate ausweichen. Wozu haben
wir uns eigentlich jahrelang bemüht, neue und aufregende Musik
gerade auch für Schüler aller Alterstufen zu schreiben
und so auch interpretatorisch neue Ansätze (neue Spieltechniken)
zu schaffen?
Ich kann nur hoffen, dass Sie und die für die Ausschreibung
Verantwortlichen die Situation nochmals überdenken und ab
2009 wieder zur alten Regelung zurückkehren werden.
Mit freundlichen Grüßen
Gerhard Braun
ehem. Prof. für Quer- und Blockflöte an der Staatl. Hochschule
für Musik Karlsruhe, Ehrenpräsident der ERTA
Entwicklung beobachten, bereit zur Korrektur ...
Eine Antwort von Prof. Reinhart von Gutzeit auf den Offenen Brief
Lieber Herr Braun!
Nachdem wir uns erst ein paar Jahrzehnte kennen, verwundert
die Kommunikation über einen „offenen Briefwechsel“ im
ersten Augenblick. Aber es hat ja auch sein Gutes, wenn die inhaltliche
Debatte auf diese Weise mehr Verbreitung findet und die Redaktion
freut sich immer über einen polemisch zugespitzten Briefwechsel!
Also wir haben mit einem Federstrich Ihre jahrzehntelange Arbeit
ruiniert. Geht es denn wirklich nicht ein bisschen kleiner?
Und Sie sind die Komponisten, Interpreten und Pädagogen,
und wir die Funktionäre? Das liest man immer gerne. Ich
will Sie erinnern, dass die „Funktionäre“ von ”Jugend
musiziert“ in ihr Amt berufen wurden, weil sie im Hauptberuf
Hochschullehrer oder Musikschullehrer sind oder waren und Ihnen
versichern, dass wir vor jeder Entscheidung gründlich über
die vorhersehbaren künstlerischen und pädagogische
Folgen nachdenken. Genau darin liegt die zentrale Aufgabe des
Projektbeirats.
Der erweiterte Projektbeirat (diesem für Grundsatzfragen zuständigen
Gremium gehören fast 40 Funktionäre (!) aus allen Bundesländern
an) hat nun tatsächlich beschlossen, die seit Jahrzehnten
bestehende Verpflichtung aufzuheben, in jedem Fall ein Werk der
Neuen Musik im Programm der Teilnehmer/-innen zu verlangen.
Wir haben in den letzten Jahren immer mehr den Eindruck gewonnen,
dass die jungen Leute sich inzwischen gerne und sehr erfolgreich
mit der Neuen Musik beschäftigen und dass sie (die Neue Musik)
diesen Schutzzaun, die Sonderstellung, als einzige Epoche mit einem „Muss“ belegt
zu sein, nicht mehr benötigt.
Wir wollen stattdessen Anreize setzen und die Teilnehmer
mit Sonderpreisen zu einer Beschäftigung mit sehr unterschiedlichen Aspekten
der Moderne motivieren. Damit möchten wir zu einer vertieften
inhaltlichen Auseinandersetzung beitragen und dem entgegensteuern,
was auch Sie beklagen: dass vielfach Alibiwerke gewählt wurden
und die Pflicht zur Neuen Musik mit rumänischen Tänzen
oder Musical-Songs umgangen wurde. Das Ziel bleibt also: die Neue
Musik soll gefördert werden.
Die Methode wechselt jedoch: Anreiz statt Zwang.
Natürlich können wir nicht sicher sein, dass unser Konzept
aufgeht. Darum haben wir zusätzlich beschlossen, die Entwicklung
genau zu beobachten und zur Korrektur bereit zu sein, wenn der
eingeschlagene Weg nicht zum gewünschten Erfolg führt.
Noch eins: die Integration von bestimmten „pop-affinen“ Instrumenten
in den Wettbewerb ist ein schwieriges Thema, das in den Jumu-Gremien
heiß diskutiert und im Herbst entschieden wird.
Viele Kollegen unterstützen diesen Wunsch – wohl wissend,
dass er knifflige Fragen aufwirft. In der Zielsetzung, dass Jumu
sich auch zukünftig von „Deutschland sucht den Superstar“ fundamental
unterscheiden soll, sind sich alle mit Ihnen einig! Es hat auch
noch niemand vorgeschlagen, Dieter Bohlen das Amt des Jumu-Vorsitzenden
anzutragen.