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nmz 2007/11 | Seite 37-38
56. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Das Experiment und das auf der Haut Brennende
Zu den Donaueschinger Musiktagen 2007 · Von Reinhard Schulz
Fraglos ist Donaueschingen in Sachen zeitgenössischer Musik
ein auserwählter Ort. Man erwartet von ihm den Spagat zwischen
dem radikalen Experiment und dem großen, zu brennenden Zeitfragen
Stellung nehmenden Werk. Und oft schon wurden sich die Köpfe
heiß geredet, wo denn der Schwerpunkt zu liegen habe. Dass
beides vielleicht subtil in Einklang zu bringen sei, wurde in der
Erregung der Auseinandersetzung oft unter den Tisch gekehrt.
Wo findet das Experiment in der Musik heute überhaupt statt?
Gewiss nicht mehr in der einst als das Bewusstsein öffnend
proklamierten Klangkunst, also in den Installationen, die seit
Armin Köhlers Amtsantritt bei den Donaueschinger Musiktagen
fester Bestandteil des Festivals sind. Mehr und mehr nehmen sie
den Charakter einer Schaufensterdekoration an, sie sind nett, geschickt
drapiert, sie tun im Grunde nirgendwo weh. Hier wird mehr gebastelt
denn wagemutig experimentiert, der Spieltrieb, durchaus auch Agens
der Kunst, droht sich zu verselbständigen. Da war durchaus
Ansprechendes: Erwin Staches „Eintauchen – Auftauchen“ zum
Beispiel, wo eine Ansammlung von Klangwesen Stäbe in einen
Teich tauchten, die von Hämmern angeschlagen wurden. Manchmal
kam (das war auch über einen Anruf per Handy auszulösen)
Unruhe in die Gestalten und es entstanden Klangstrukturen mit merkwürdigen
Glissando-Wirkungen, die durch Absenken der Stäbe ins Wasser
erzielt wurden: Kunst als zweite Natur, mit träger Ruhe und
flatterhafter Erregung. Auch Trimpins Skulpturen, zum einen ein
diffizil gebauter Musikapparat „Jackbox“, den man wie
auf einer alten Musikbox zum Spielen eines Boogies oder einer Struktur
von Nancarrow ermuntern konnte, zum anderen die Verwandlung des
Donauquellenbrunnens in eine Klangquelle. Hier waren wiederum Röhren
(aus Bambus) ins Wasser getaucht, die wie Orgelpfeifen zum Klingen
gebracht wurden. Beim Absenken wurde vom Wasser die Luft im Innern
der Röhre nach oben gedrückt: Musik entsteht also, indem
die Pfeifen, wie um ihren existenziellen Zweck zu unterstreichen,
der Luft entgegenkommen. Solches in Gedanken verließ man
lächelnd den Ort, eher leicht angestupst denn wirklich erregt.
Konzentration
und Sammlung: Hans Zenders „Logos – Fragmente“ für
32 Singstimmen und 3 Orchestergruppen. Foto: Charlotte
Oswald
Da hatte eher noch Marc Sabats „wave piano scenery player“ etwas
mehr Fallhöhe, eine Mischung aus Installation und konzertanter
Aufführung, wo auf einem Midi-Klavier mit einem hinter einem
Vorhang versteckten Pianisten luzide mikrotonal schwebende Klänge
und auch wogenartige Klangballungen erzeugt wurden, wobei der Anteil
des real Gespielten zum vom Computer Erzeugten schwankte: ein Vexierspiel
klanglicher Realitäten.
Experiment im emphatischen Sinne (als Gang ins Unvorhersagbare,
als Wagnis) findet sich hier also allenfalls rudimentär und
im Grunde hatte Luigi Nono schon vor einem Vierteljahrhundert darauf
verwiesen, dass sich der experimentierend suchende Geist nach den
Materialschlachten der alten Avantgarde einen neuen Ort suchen
müsse: im Inneren – sowohl des Klangs als auch (das
ist nicht zu trennen) der Seele. Die Ergebnisse von Donaueschingen ‘07
bestätigten weithin diese These.
Denn die bloße Auslotung des vor allem mit elektronischer
Unterstützung Machbaren, der zu erzielenden Effekte, kann
nicht genügen. Und dennoch schwimmen gerade jüngere Komponisten
darin leichthin wie Fische. Obsession ist wenig auszumachen, vielmehr
die mehr oder weniger geschickte Handhabung von Techniken, die
wie zur Selbstbeschau ins Freie gesetzt werden. Da werden Loops
geschaltet, alte, also schon gespielte Klänge, werden auf
die neuen geschichtet, da werden über Verfremdung Hörirritationen
erzeugt, die im Grunde gar keine Irritationen sind, da die Effekte
die Tendenz – aus hörpsychologischer Sicht – zu
Gleichmacherei in sich bergen. Übersehen wird oft die Dringlichkeit
der Mitteilung, die mitunter zur bloßen Beleuchtung eines
Randphänomens verkommt. Die Sicherheit des Umgangs mit Computern,
die Leichtigkeit des Verfügens wird zum Bumerang.
Das fiel besonders in den mittleren Konzerten auf, die kleineren
Besetzungen und experimentellen Ansätzen mehr Raum gaben.
So war zum Beispiel das Konzert mit dem „ensemble recherche“ (das
daran keinerlei Schuld trägt) weithin eine Enttäuschung.
Von den vier Arbeiten von François Sarhan („The Name
of the Song“), Michael Pelzel („… sentiers tortueux …“),
Simon Steen-Andersen („Nothing Integrated“) und Francesco
Filidei („Sonata a sette“) konnte allenfalls Steen-Andersens
extrem reduktionistisches Stück einige Aufmerksamkeit erregen,
die anderen blieben in partiellen Aufgabenstellungen relativ hilflos
hängen. Aber auch in den zwei anderen Zwischenkonzerten (diesmal
zum Teil mit dem Ensemble Modern) musste man diese Beobachtung
machen. Michael Lentz brachte mit „Zurück“ einen
eigenen Text über Einsamkeit und Verlorenheit (an Schuberts „Leiermann“ orientiert)
zum Vortrag, der in ein sich elektronisch multiplizierendes Gerüst
aus kurzen Instrumentalakzenten eingehängt war. Das war zwar
stringent in seiner kargen musikalischen Anlage, letztlich aber
erwies sich die kompositorische Basis als relativ dünn (ganz
im Gegensatz zum Gefühl der Armut bei Schubert!). Und das
Stück „AXIS_CORE“ von Alex Buess, das Klänge
aus heterogenen Zusammenhängen (altes Gestein, Instrumente,
Elektronik) zu neuer Wirkungsintensität zu verschmelzen suchte,
blieb im Grunde schon in der Entwicklungsphase stecken. Die Differenz
der Klanggenesis blieb verschwommen. Dann war da noch Hans Thomallas
doch eher recht alert dem Schrei nachlauschendes Stück „Ausruff“,
das melodisch wuchernde, doch recht konventionell gedachte Stück „Monströses
Lied“ von Arnulf Herrmann und Philippe Manourys klar gedachtes
und ansprechendes Werk „Strange Ritual“, in dem ein
distinktes Kopfmotiv kundig abgerieben und zerstört wird.
Momente des Zwingenden freilich blieben auch in diesem Stück
außen vor. So fand sich hier allein das manisch dringliche,
aus wenigen extrem zu spielenden Tönen generierte und in kleinen
Abänderungen ruhig wandernde Stück „# 211007“ (das
ist das Datum der Uraufführung, das Stück ist eine Möglichkeit
von vielleicht ins Unendliche gehenden Ausformulierungen eines
Grundmoduls mit der Benennung „# [unassigned]“, das
aufgrund seiner differenziert gehörten Klanglichkeit und seiner
der Zeit enthobenen Schwebehaltung in den Bann schlug. Die Klage über
die relative Beliebigkeit vieler Stücke geriete zum bloßen
Jammern über das schlechte Jetzt, wenn es nicht ebenso profunde
Gegenentwürfe gäbe, von denen auch in Donaueschingen
zu hören war. Das war zum Beispiel das NOWJazz-Konzert mit
den Avantgarde-Grenzgängern Elliott Sharp und Bernhard Lang,
die sich gemeinsam im Projekt „War Zones“ dem Thema
von Krieg und Gewalt heute (also ebenso im Irak wie in Schichten
der eigenen Gesellschaft) widmeten: runde, zupackende Kompositionen/Improvisationen
mit Rap-Elementen und harten Schnitten.
Am meisten beim diesjährigen Festival irritierte wohl das
Film-Musik-Projekt von Edgar Reitz und Johannes Kalitzke. Ihnen
ging es um das Verhältnis von wirklicher und filmischer Realität,
um Fragen des Raums und der unterschiedlichen Zeitgestaltung von
Musik und Film. Das wurde bewusst an konventionellen Formen des
Genres aufgehängt: eine „spannende“ Story (Entführung,
Verfolgung, Erotik) mit das Bild unterstreichender Musik. Wer den
Plot ernst nahm (Altmännerfantasie, Kitsch, konventionelle
musikalische Gestaltung), der übersah wohl das Eigentliche.
Denn geschickt wurde hier mit unterschiedlichen Wahrnehmungsformen
gespielt. Der Film löste sich direkt aus dem Publikum heraus,
das „vor Beginn“ (im Grunde schon die erste Täuschung)
wie in einer Spielerei der Kameraleute abgefilmt und auf die Leinwand
projiziert wurde (mit den Mechanismen des Winkens in die Kamera
et cetera). Dann steht inmitten der Menge eine Frau auf, ein Handy
ruft sie, sie eilt, von den Kameras verfolgt nach draußen.
Ein Mann folgt ihr und langsam rutscht das Ereignis ab in ein Filmgeschehen.
Denn die Leinwand zeigt, was draußen geschieht. Dazu erklingt
live gespielt die Musik von Kalitzke, die Tempi strukturiert und
ihrerseits auf filmische Klänge (etwa in einer Nachtbar) reagiert.
Ein Vexierspiel zwischen unterschiedlichen Realitätsebenen,
das zum Schluss wieder mit der zur Sängerin mutierenden Schauspielerin
(Salome Kammer) in den Konzertsaal zurückkehrt. Musste das über
besagte Klischees abgehandelt werden? Vielleicht nicht, der Plastik
aber war es zuträglich, denn man hatte Gewohntes vor Augen,
um das es aber gar nicht ging.
An musikalischen Werken werden nachhaltiger in Erinnerung bleiben
die freche Montage Helmut Oehrings „GOYA I“ über
dessen Zyklus „Die Schrecken des Krieges“, wo munter
Beethoven mit unecht wirkenden Klängen und anderem Zusammengetragenen
abgemischt werden. Die Musik spaziert vorbei, scheinbar „bloß so“,
in Wirklichkeit zerkratzt von den Ereignissen, sei es zu Zeiten
Goyas und Beethovens, sei es jetzt. Von Younghi Pagh-Paan war ein
kleineres Vokalwerk auf Texte eines christlichen koreanischen Priesters
aus dem 19. Jahrhundert zu hören, das vor allem durch eine
ganz durchsichtige, west-östliche Klanglichkeit bestach. Noch
eindringlicher wirkte Klaus Hubers bewusst als Alterswerk konzipiertes
Stück „QUOD EST PAX“, das wunderbar eindringlich
mikrotonal gehört über den Begriff Friede nachdachte.
Fünf Solostimmen brachten Texte von Octavio Paz und Jacques
Derrida, trotzdem ist das Stück kaum als Vokalwerk zu betrachten.
Die Stimmen liegen als Schicht über der Musik, als Transportmittel
des philosophischen Hintergrunds. Friede als Form von Gerechtigkeit
und gegenseitiger Toleranz (und nicht als ohnehin falsches Resultat
von Sicherheitsmaßnahmen) wurde als stilles Miteinander von
heterogenen Klangelementen hörbar. Das Abschlusskonzert (SWR-SO
unter Sylvain Cambreling) schließlich wusste durchweg zu überzeugen.
Zunächst einige Abstriche: Enno Poppe ist ein Komponist, der
sich stets auf spannende Art neuen Problemen stellt, die immer
von einem einfachen Ausgangspunkt ins Komplexe streben. Sein Orchesterwerk „Keilschrift“ wagte
den Versuch, ein ganzes Werk aus einem relativ lapidaren, leicht
arabesk verzierten Fünftonmotiv zu entwickeln: gewissermaßen
als Stellungnahme, wie Minimalismus auch zu denken sei. Ein verblüffend
an Gestalten und Charakteren reiches Stück entstand, dem es
vielleicht doch nicht ganz gelang, die Zeit ganz zwingend zu erfüllen.
Dann erlebte man drei Teile eines auf etwa ein Dutzend Abschnitte
konzipierten Großwerks „Logos – Fragmente“ von
Hans Zender. „Brandaktuelle“ (Zender) Textfragmente
aus dem frühchristlichen Umfeld des 1. und 2. Jahrhunderts
werden differenziert oratorisch behandelt und musikalisch massiv
wie plastisch vergegenwärtigt. Klare Konturen, Vielfalt der
Sprachmittel und reflektorische Weite reichen sich die Hand. Die
Musik, das mag Einwand sein, ist Transportmittel des Gesagten,
denkt es nicht auf musikalische Art neu (was etwa bei Huber der
Fall war). Aber ihre direkte Fesselungskraft überzeugt.
Am meisten bestechend wohl wirkte das 20-minütige Werk „… auf … III“ für
Orchester und Live-Elektronik von Mark Andre (das dann auch mit
dem Kompositionspreis des SWR-Sinfonieorchesters ausgezeichnet
wurde). Das Wort „auf“ ist vielfach schillernd, es
bezeichnet das Darüber ebenso wie das Entfernen oder das neue
Entfachen (zum Beispiel in aufleben, aber auch, für Andre
zentral, in der christlichen Hoffnung der Auferstehung). Dafür
Klang zu finden war die ganz nahe liegende wie unendlich schwierige
Aufgabe (auch hier das „auf“), die sich Andre stellte.
Es wuchs eine Musik aus der vollkommenen Stille, in die leichte
Kratzzeichen gesetzt wurden, die Bewegung auslösten. Der Klang
in überlegener Behandlung elektronischer Modifikationen war
immer da und nie ganz da. Ein Zwischenreich blühte auf, brennend
nachdrücklich und zugleich stets loslassend: Massivität
und Verflüssigung, alles im Widerspruch und zu höherer
Einheit strebend, die letztlich wieder die Stille ist. Man erlebte
ein Klang-ereignis, das experimentell war und zugleich hautnah
anrührte. Es gibt es also, dieses Miteinander.