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nmz-archiv
nmz 2007/11 | Seite 39
56. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Verschlungene Wege als Hintergrund
Unverwechselbarer Platz in der Festivallandschaft: Klangspuren
Schwaz 2007
Was haben Hörer zeitgenössischer Musik und Pilger gemeinsam? – „Im
Menschen lebt die Sehnsucht, die ihn hinaustreibt aus dem Einerlei
des Alltags und aus der Enge seiner gewohnten Umgebung. Immer lockt
ihn das Andere, das Fremde. Doch alles Neue, das er unterwegs sieht
und erlebt, kann ihn niemals ganz erfüllen. Seine Sehnsucht
ist größer. Im Grunde seines Herzens sucht er ruhelos
den ganz Anderen und alle Wege, zu denen der Mensch aufbricht,
zeigen ihm an, dass sein ganzes Leben ein Weg ist, ein Pilgerweg
zu Gott.“
Diesen Worten von Augustinus folgt eine der spannendsten Ideen
der Gestalter des jährlichen Tiroler Klangspuren-Festivals.
Peter-Paul Kainrath, Maria-Luise Mayr und Reinhard Schulz haben
ihre Festival-Besucher heuer schon zum zweiten Mal an einem Sonntag
auf eine zwölfstündige Konzert-Pilgerwanderung an den
Stationen des Tiroler Jakobsweges entlang geschickt. Diesmal war
es das Teilstück von Maria Larch in Terfens bis zum Innsbrucker
Dom. Es war spannend, die unterschiedlichen akustischen und architektonischen
Eigenheiten der verschiedenen Kirchenräume auf dem Weg zu
erkunden.
Rast
bei der Pilgerwanderung: Josef Steinböck an der Tuba
und Miriam Merzhäuser vom Festival Klangspuren. Foto:
Astrid Karger
Der Lettische Radiochor ließ die müden Wanderer wieder
an gleich drei der sechs Stationen mit Werken unter anderem von
Gavin Bryars, Sofia Gubaidulina, Evis Sammoutis, Peteris Vasks über
makellose Intonation und fein abgestufte Klangentfaltung staunen
und trug wesentlich dazu bei, dass die Pilgerwanderung wieder zu
einem der Hauptereignisse der Klangspuren geriet.
Der Konzertabend zwei Tage zuvor mit der Erstaufführung der
fünf Streichquartette von Jörg Widmann als Zyklus in
der Schwazer Kirche St. Martin wirkte atmosphärisch wie eine
Auftaktveranstaltung zur Pilgerwanderung. Das Minguet-Quartett
hatte überaus sorgfältig gearbeitet und setzte Maßstäbe
mit seiner frischen und dramaturgisch klug durchdachten Interpretation
der technisch höchst anspruchsvollen Stückfolge: Wild
und ungezügelt der Parforce-Ritt im dritten, archaisch anmutende
statische, sich ineinander verhakende Motive im fünften Satz – tatsächlich
gelang eine Uraufführung eines völlig neu gehörten,
anderthalbstündigen poetischen Werkes, die das begeisterte
Publikum mit Standing Ovations feierte.
Insgesamt lag ein wichtiger Schwerpunkt des Festivals auf der
zeitgenössischen
Streichquartett-Literatur. Vom Quartuor Diotima über die Quartuors
Bozzini und Benaim bis hin zum Arditti-Quartett reichte die Liste
der renommierten Interpreten. Selten dürfte man auf einem
Festival einen so umfassenden und konzentrierten Überblick über
die Geschichte dieser Gattung im 20. und 21. Jahrhundert erhalten
haben. Die Stücke von Lachenmann, Crumb, Cage, Boulez, Carter,
Rihm zeigten ebenso wie die Ur- und Erstaufführungen dieses
Genres von Misato Mochizuki, Ernstalbrecht Stiebler und Georg Friedrich
Haas, wie wichtig diese „klassische“ Besetzung auch
heute noch für die Weiterentwicklung von Formgestaltung und
Klangsprache der Komponisten und Komponistinnen ist. Diese Art
musikalischer Spurensuche ist es, die der Tiroler Veranstaltung
einen ganz eigenen, unverwechselbaren Platz in der Landschaft der
Festivals für zeitgenössische Musik verschafft. Nicht
nur der Blick nach vorn prägt die Programmgestaltung. Auch
das Nachzeichnen von kompositorischen Entwicklungen, der Versuch,
die verschiedenen verschlun-genen Wege, die die musikalischen Experimente
der letzten hundert Jahre genommen haben, als Hintergrund für
die Uraufführungen hörbar zu machen: Dieser Anspruch
der Klangspuren trägt sicherlich nicht gerade wenig dazu bei,
dass die verschiedenen Aufführungen und Projekte ein sehr
breites Publikum aus interessierten musikbegeisterten Laien finden.
Ein Großteil der Konzerte ist ausverkauft, die Kooperationen-
und Sponsorenliste hochkarätigst und die Anzahl der Neugierigen,
die aus dem Nachbarland Deutschland anreisen, wächst langsam
aber stetig. Dabei ist der Erholungswert der Bergregion ebenso
attraktiv wie die Liste der Uraufführungen. Die Internationale
Ensemble Modern Akademie hatte in diesem Jahr zu Meisterkursen
mit Michael Gielen, Franck Ollu und Wolfgang Rihm geladen.
Junge Musiker/-innen aus 35 Nationen hatten sich um die begehrten
Plätze beworben. Die eindrucksvolle Präsentation der
Ergebnisse zeigte, dass es den Nachwuchsmusiker/-innen in der kurzen
Einstudierungszeit gelungen war, die strukturellen Verläufe
der Werke von Rihm und Schönberg so gut zu erfassen, dass
es nicht ins Gewicht fiel, dass manches Detail im Laufe weiterer
Probenarbeit sicherlich noch verfeinert worden wäre. Das vorbildliche
Kinder-, Jugend- und Lehrlingsprogramm „Klangspuren barfuß“ hat
inzwischen durch weitere frische und originelle Ideen einen so
großen Umfang erreicht, dass ihm ein eigenes Festival-Wochenende
gewidmet ist. Die Sorge, wie man das Publikum verjüngen könnte,
brauchen die „Klangspurler“ ganz bestimmt nicht zu
haben.