[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2007/11 | Seite 48
56. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Triumph der Liebe über den Tod
Singspiel „Alceste“ zur Wiedereröffnung der
Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar
Der Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek im Herzen des klassischen
Weimar war eine Katastrophe für das deutsche Bibliothekswesen,
wie es seit dem Zweiten Weltkrieg keine vergleichbare gegeben hatte.
Nun ist das historische Palais, in dem die ältesten und wertvollsten
Bücher untergebracht waren, in erstaunlich kurzer Zeit mit
neuem Glanz und alten Farben wiedererstanden. Auch ein Teil der
Buchbände ist, sofern bereits restauriert, an den Platz der
Demokratie zurückgekehrt. Flankiert von Hellmut Seemann, dem
Kopf der Klassik Stiftung Weimar, und Bibliotheks-Chef Michael
Knoche nutzte Bundespräsident Horst Köhler die Gelegenheit
zu grundsätzlicheren Ausführungen über Buch- und
Bildungswesen sowie Erinnerungskultur.
Der
Rokokosaal in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek.
(c) Klassik Stiftung Weimar. Foto: Maik Schuck
Zu den Schätzen Weimars gehören neben Immobilien mit
proper restaurierten historischen Gebäuden, alten und neueren
Büchern oder Gemälden und anderen Stücken des Andenkens
auch Musik und Musikalien. Nicht nur Franz Liszt war hier als Kapellmeister
tätig, sondern bereits der junge Johann Sebastian Bach. Doch
von dessen Epoche ist unmittelbar nichts mehr erhalten. 1774 vernichtete
ein Großfeuer die mitten in der Stadt gelegene Wilhelmsburg
mitsamt den Räumen des Orchesters und des Theaters.
Damals wurde allerdings die bereits in das etwas höher gelegene
Palais ausgelagerte Bibliothek verschont. Der Schlossbrand beendete
auch die höchst produktive Tätigkeit der Seylerschen
Theater-Truppe in Weimar, die zwei Jahre zuvor an Anna Amalias „Musenhof“ sesshaft
geworden war. Der Prinzipal Abel Seyler kam von Lessings Hamburger
Nationaltheater und avancierte nicht nur zum großen Vorkämpfer
von Shakespeares Werk in Deutschland, sondern arbeitete auch mit
dem Shakespeare-Übersetzer Christoph Martin Wieland zusammen,
der sich als Lehrer der Weimarer Prinzen vom Dichter des Sturm
und Drang und vom französisch inspirierten Rokoko zum ersten
deutschen „Klassiker“ mauserte.
Seylers Kapellmeister und Hauskomponist war Anton Schweitzer (1735–1787),
auch ein Mann mit Sturm- und Drang-Biografie. Er diente zunächst,
ganz nach der Regel der Zeit, als Hofmusicus in Hildburghausen.
Nach ausgiebigem Italien-Aufenthalt stieß Schweitzer dann
zur Seylerschen Gesellschaft. Für sie schrieb er mehrere Opern,
darunter „Aurora“, „Die Wahl des Herkules“ und „Alceste“ nach
Wieland-Texten. Eines dieser Weimarer Kleinodien wurde, betreut
von Jan Philipp Reemtsma, zur Wiedereröffnung der Bibliothek
aus der Versenkung geholt: „Alceste“ von 1773 – jenes
Singspiel, das lange als Modell einer „deutschen Oper“ gefeiert
wurde und auch bei Gluck und Mozart Spuren hinterließ. Ein
auf der Tragikomödie von Euripides und einem Libretto von
Pietro Metastasio basierendes „unmögliches“ Stück:
Eine Frau opfert sich den Göttern, damit ihr todkranker Ehemann überlebt – doch
selbst in der verbürgerlichten Version Wielands bedarf es
fortdauernd eines göttlichen Helfers, damit auch sie am Ende
gerettet wird. Den großen, erst nach Jahrzehnten abebbenden
Erfolg verdankte das von Aufopferung triefende Singspiel der Art,
wie es von zwei der fundamentellen Menschenprobleme handelte, auf
denkwürdig unmittelbare Weise Liebe und Tod verknüpfte.
Frisch und munter, manchmal ein wenig forciert, dirigierte Michael
Hof-stetter im Weimarer Schloss aus neu ediertem Notenmaterial
die „Alceste“. Mit Simone Schneider in der Titelrolle
und der hinreißenden Cyndia Sieden als Prinzessin Partenia
sowie dem kernigen Tenor Christoph Genz und Josef Wagner als leicht
alternativ daherkommendem Helden Herkules stand ihm ein leistungsfähiges
Solisten-Quartett zu Verfügung. Insbesondere die Parte-nia-Partie
mit ihren Koloraturen und Kadenzen, dem Wechsel der Gefühlslagen
und Intonationen sind geeignet, dem Werk neue Aufmerksamkeit zuwachsen
zu lassen. Unter sechs klassizistischen Säulen im Doppelsaal
des Weimarer Schlosses, in dem einst die Verfassung für die
zweite deutsche Republik ausgearbeitet wurde, zeigte sich, unaufwändig
inszeniert, die einst so anrührende Geschichte von der schier übermäßigen
Gattenliebe und das hilfreiche Eingreifen des göttlich bevollmächtigten
Herakles. Am Ende kommt die eigentlich tote Alceste, deren neues
Leben der Superheld seinem Vater Zeus abschwatzt, mit Kopftuch
und Sonnenbrille daher – wie Maria Callas in fortgeschrittenem
Alter.
Mit drei in einen Vogelbauer gesperrten Tauben, den heiligen
Vögeln
der Aphrodite, sorgte Hendrik Müller ebenso für etwas
mythologische Unterfütterung wie mit den Raubkatzenfellen,
die Herkules aus seinem Reisesack holt. Der herbeitapernde stumme
Diener befeuert ihn mit Cognac wie er König Admet mit Hochprozentigem
tröstet – doch zum Rauchen kommt Herkules am Ende nicht
mehr (verhält sich also gesundheitspolitisch korrekt). Ein
Feuilletonist bezog im Überschwang neuweimarer Restaurationsgefühle
die Rettungstat des „Göttersohns mit den Attributen
des modernen Prekariats“ unmittelbar auf die neueste Geschichte
der Bibliothek; doch diese Allegorie ignoriert die entscheidende
Differenz zwischen einer mythischen Freundschaftstat und der von
bürgerschaftlichem Engagement flankierten Wahrnehmung kultureller
Verpflichtungen aus dem geistigen Erbe in einem wohlhabenden demokratischen
Staat.
Mit „Alceste“ kam in Weimars Schloss ein Werk zu Gehör, das
souverän über alle italienischen Opernkünste des mittleren 18.
Jahrhunderts verfügt. In manchem – angefangen vom gründlich fugierten
Allegro der Ouvertüre – scheint es noch barocker Satz- und Affektenlehre
verpflichtet. Andererseits ist die Partitur aber mit so manchen jener damals
neuen Errungenschaften der „Empfindsamkeit“ sowie des Sturm und Drang
durchschossen: Anton Schweitzer kannte offensichtlich das damals Neueste von
Carl Philipp Emanuel Bach. Es gelangen ihm anmutige Synthesen und überraschende
Kontraste. Ins Repertoire wird es diese „Alceste“ wohl nicht schaffen,
aber als Delikatesse die Runde machen und als CD gewiss einigen Erfolg haben.
In Weimar funkelte sie als Solipsistin.