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nmz-archiv
nmz 2007/11 | Seite 4
56. Jahrgang | November
Magazin
Ein unzeitgemäßer Einzelakteur
Nachdenken über Kurt Schwaen (1909–2007)
Keiner, der seinen König Midas nicht kennt – kein Kind,
das Pinoccios Abenteuer nicht sah. Kein ostdeutsches Kind, müsste
man jetzt korrigieren, und solange der entsprechende Fachlehrplan
galt. Jahrzehnte lang jedenfalls waren Werke von ihm in östlichen
Gegenden Schulstoff, somit Pflicht und für viele im Leben
die erste „schräge“ Musik – avancierten
Ohren hingegen ist manches davon bis heute ein Graus.
Kurt
Schwaen. Foto: Verlag Neue
Musik
Ganz klar: Kurt Schwaen, geboren 1909 in Kattowitz/Schlesien,
war kein Avantgardist. Kein Neutöner zumindest. Er wurzelte in
slawischer Folklore, Satztechnisches lernte er im Klavierunterricht.
Entscheidende künstlerische Prägung erwuchs ihm als Klavierbegleiter
der Ausdruckstänzerinnen Mary Wigman und Oda Schottmüller – weltanschauliche
in Zuchthausjahren in der NS-Zeit in Zwickau, aus antifaschistischem
Widerstand, in Begegnungen mit Eisler, Dessau und Brecht. Im Nachkriegsberlin
engagierte er sich für den Wiederaufbau musikalischer Bildung – in
der DDR war er zeitweise Sekretär des Komponistenverbandes
und der Musiksektion der Akademie der Künste. Er engagierte
sich, war durchaus parteiisch und blieb – integer als Mensch – seinem
Einzelweg treu.
Musikalische Moden zogen an ihm vorüber. Eigenes Komponieren
schien geradezu unberührt von allem, was sich ästhetisch
wie gesellschaftlich rieb – es gab sich meist heiter, funktional,
unverbindlich gelassen. Persönlich wurde er bestenfalls am
Klavier, an dem er noch bis vor Kurzem selbst agierte. Mehr als
600 Werke aller Genres zählt das Oeuvre Kurt Schwaens – auffällig
darin das Faible für Szenisches, die Vielzahl der Ballette,
der komischen Opern, der Bühnenmusik. Vater des Kindermusiktheaters
nannte man ihn erst vor einigen Jahren bei einem Kolloquium in
Köln – was eine späte Auszeichnung war. War dieser
Kurt Schwaen also womöglich doch einer, der voranging auf
unmarkiertem Terrain? Als er 1973 in Leipzig die „Arbeitsgemeinschaft
Kindermusiktheater“ initiierte, war das heute immense Angebot
für die jüngste Generation der Theaterbesucher nicht
einmal denkbar, geschweige denn vorhanden. Doch Schwaen, und das
unterscheidet ihn heute aufs Neue, hatte weniger an neue Konsumenten
gedacht: Fast 20 seiner szenischen Werke sehen ambitionierte Jugendliche
als Darsteller, Mitwirkende vor. Wo nur und durch wen werden all
die Stücke nun wohl künftig gespielt?
Bliebe gleichfalls die Frage nach seinem Blick auf die Gesellschaft,
in der er vier Jahrzehnte lang lebte? Kaum denkbar, dass er ihre
Brüche, Widersprüche nicht wahrnahm. Musikalisch problematisierte
er diese nur wenig und vor allem nicht mit zeitgenössischen
Klängen und Mitteln. Nicht seine Büchner-Oper „Leonce
und Lena“, nicht die Bühnenmusik zu Brechts „Die
Horatier und die Kuratier“, nicht das „Vietnamesische
Konzert“ also haben (ost-)deutsche Musikgeschichte aus heutiger
Rückschau entscheidend geprägt. Und doch war das etwas.
Man höre vielleicht noch einmal genauer in jenes kleine Klavierstück „Nocturne
lugubre“ hinein. Schwaen hatte es 1992 notiert, mit 83, und
später mehrfach darauf verwiesen. Es ist ohne Zweifel eines
seiner wenigen Werke mit subjektivem Charakter. Zu behaupten, das
ostinate Vier-Ton-Motiv, das das Opus grundiert, meine die vier
deutschen Staaten, die der Komponist selbst durchlebt hat, wäre
gewiß überzogen. Ganz sicher aber handelt es sich um
eine politische Trauermusik; der greise Künstler formulierte
mit ihr seinen Abschied vom Lebens- und Geschichts-Abschnitt DDR
inklusive der damit für ihn verbundenen Gesellschafts-Vision.
Nach dem Mauerfall blieb der Komponist höchst aktiv, zahlreiche
Werke entstanden, wurden ur- und nachaufgeführt – undenkbar
ohne Lebensgefährtin Ida Iske und ihr Archiv. Das Alter schien
ihm nichts anzuhaben, es machte ihn schließlich noch zum
Zeugen seines Jahrhunderts. Er hatte den Krieg überlebt, in
der Strafdivision 999. Am Morgen des 9. Oktober ist Kurt Schwaen
im 99. Lebensjahr in Berlin-Mahlsdorf verstorben.