nmz 2007/11 | Seite 24
56. Jahrgang | November
Musikbildung
„Wenn du nun irgendeinen Ton ...“
Die Relative Solmisation als Instrument in der Musikerziehung
An kaum einer Lehrmethode scheiden sich die musikpädagogischen
Geister so heftig wie an der Relativen Solmisation. Durch Zoltán
Kodály wurde sie im 20. Jahrhundert wieder populär
gemacht und wird deshalb mitunter auch als „Kodály-Methode“ bezeichnet.
Das Prinzip der Relativen Solmisation ist jedoch schon so alt wie
das menschliche Bedürfnis, Musik und ihre inneren Abläufe
intellektuell nachvollziehbar und so letztlich auch reproduzierbar
zu machen.
Was im Mittelalter, als sich die Notenschrift gerade erst zu entwickeln
begann, ein Instrument war, um sich unbekannte Melodien leichter
zu erschließen und zu merken, könnte auch in der heutigen
Zeit Kindern wie Erwachsenen, die gerade erst beginnen, sich mit
Musik zu beschäftigen, eine gute Hilfe sein – mag sich
Kodály gedacht haben, als er es sich zum Ziel machte, auch
weniger privilegierte Menschen in Ungarn musikalisch zu bilden.
Für seine pädagogische Arbeit griff er eine bereits im
Mittelalter von Guido von Arezzo entwickelte Methode wieder auf.
Der Benedektinermönch, Musiktheoretiker und Lehrer an der
Kathedralschule von Arezzo in der Toskana hatte nach einer Möglichkeit
gesucht, seine Chorschüler in der Tonfindung unabhängig
von einem Vorsänger oder Instrument zu machen. Er bediente
sich dazu des Johannes-Hymnus, dessen Verse jeweils einen Ton höher
als der vorherige beginnen. Die entsprechenden Wortanfänge
(ut, re mi, fa so, la, ergänzt durch si) nutzte er als Tonsilben,
die den Stufen einer Dur-Tonleiter entsprechen, unabhängig
vom absoluten Anfangston. Dadurch prägt sich beim Singen jeglicher
Melodien mit diesen Silben jeder Ton in seiner besonderen Funktion
(Grundton, Leitton, Dominante et cetera) ein, die ja in allen Tonarten
gleich, also „relativ“ ist. Den Erfolg seiner Methode
beschrieb er unter anderem in einem Brief an einen befreundeten
Mönch: „Diejenigen, welche in dieser Kunst vollkommene Übung
besitzen, können eine jede beliebige Melodie nach diesen vier
Tonarten verändern (...). Und insoweit die Töne selbst
eine verschiedene Stellung der Ganz- und Halbtöne mit sich
bringen, insoweit wird man dieselbe (Melodie) in den verschiedenen
Tonarten nach der Eigentümlichkeit einer jeden angeben. Eine
solche Übung vorzunehmen, ist aber einesteils sehr nützlich,
andernteils auch sehr leicht...“
Kodály bediente sich ganz ähnlicher Silben: do, re
mi, fa, so(l), la, ti (si), do und erzielte ebensolche Erfolge.
In der Praxis werden den Tonsilben Handzeichen zugeordnet, welche
die Verknüpfung von Ton und Tonfunktion zusätzlich memorieren
helfen.
Obwohl sich in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts
viele weitere, ähnliche pädagogische Ansätze finden – etwa
das „Tonic-Sol-Fa-System“ von John Curwen oder die
von Fritz Jöde und Agnes Hundoegger entwickelte „Tonika-Do-Lehre“ – löst
die Erwähnung der Relativen Solmisation bei vielen Musikpädagogen
in Deutschland offenbar diffuse Vorstellungen sozialistischer Erziehungsmethoden
aus, wenngleich man sich denn doch an konkretere Vorurteile hält:
das Lernen der Tonsilben verhindere etwa, sich die „richtigen“ Notennamen
zu merken, das Vermitteln von Musik durch die den Silben zugeordneten
Handzeichen sei lediglich eine „Vorform“ der Notenschrift
und so auch nur für des Lesens unkundige Vorschulkinder interessant.
In einer Zeit jedoch, in der immer mehr Musikpädagogen in
ihrer Aufgabe, Kindern den Gebrauch ihrer Stimme oder eines Instrumentes
zu vermitteln, an Grenzen stoßen, weil frühkindliche
Musikalisierung nicht oder nur durch Fernsehen oder Computerspiele
stattgefunden hat, bietet die Relative Solmisation nicht zu überschätzende
Vorteile: mittels der schon erwähnten Handzeichen kann eine
improvisierte Melodie spontan von einer Gruppe umgesetzt und die
Tonabstände können unmittelbar erlebt werden. In Tonsilben
hörende Menschen sind durch die Relativität der Silben
in der Lage, auch auf dem Instrument problemlos zu transponieren. Überdies
wird das Gehör durch die synchrone Benennung der Töne
natürlich wesentlich konkreter geschult, als durch das Singen
eines beliebigen Textes.
Auf diese Weise machen die Silben Musik zu einer wirklichen Sprache,
die ihren ganz speziellen „Wortschatz“ und ihre eigene „Grammatik“ hat.
Wie beim Erlernen der Muttersprache geht man zunächst einige
Zeit „mündlich“ mit dieser Sprache um, bevor man
Lesen und Schreiben lernt. Und weil zum Solmisieren nichts weiter
benötigt wird als die Stimme, bietet sich diese Lehrmethode
nicht nur in der Instrumentalpädagogik als Vorbereitung oder
Ergänzung an, sondern taugt auch und gerade im schulischen
Musikunterricht als äußerst preisgünstige, kommunikative
Form der praxisbezogenen Musikalisierung auf breiter Basis.
Heike Trimpert
Ein Einführungskurs „Relative Solmisation“ für
Musiklehrerinnen und Musiklehrer aller Schulstufen, Unterrichtende
aus dem Instrumentalbereich sowie Chorleiterinnen und Chorleiter
unter Leitung von Heike Trimpert findet vom 7. bis 9. Dezember
2007 am Nordkolleg Rendsburg statt.
Anmeldung und Informationen sowie Auskünfte zu weiteren
Fortbildungsangeboten:
Nordkolleg Rendsburg
Fachbereich Musik
Am Gerhardshain 44
24768 Rendsburg
Tel.: 04331/143833
Mail: musik@nordkolleg.de
Internet: www.nordkolleg.de