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nmz-archiv
nmz 2007/11 | Seite 47
56. Jahrgang | November
Bücher
Einstieg in Schönbergs Klavierwelt
Im Mittelpunkt steht der heikle Prozess des Begreifens und Umsetzens
Jean-Jacques Dünki: Schönbergs Zeichen. Wege zur Interpretation
seiner Klaviermusik (Publikationen der Internationalen Schönberg-Gesellschaft,
Bd. 6), hrsg. v. Matthias Schmidt, mit einem Vorwort von Rudolf
Stephan, Verlag Lafite, Wien 2006, 151 S., Abb., Notenbsp., CD,
€ 34,00,
ISBN 978-3-85151-074-4
Arnold Schönberg (1874–1951) gilt heute als Klassiker
der Moderne. Seine frühen, hyperromantischen Werke, die „Gurrelieder“ oder „Verklärte
Nacht“ hört man gerne und mühelos. Die Schöpfungen
seiner späteren, von ihm geschaffenen Zwölftonmusik haben
ihren einstigen großen Schrecken verloren. Seine Klaviermusik
beispielsweise, die anfangs mit atonalen Mitteln, danach mit der
neuen Reihentechnik verwirklicht wurde, führen längst
nicht nur Spezialisten auf. Auch der unkundige Hörer, vor
allem im Konzert, so zeigt die Erfahrung, gerät in den Bann
der schönbergschen Expressivität, wenngleich der Assoziationsraum
unbestimmt und rätselhaft bleiben mag und der gebotene enorme
geistige und spieltechnische Aufwand zunächst nur vage zu
erahnen ist.
Das neue Schönberg-Buch von Jean-Jacques Dünki „Schönbergs
Zeichen. Wege der Interpretation seiner Klaviermusik“ setzt
an diesem heiklen Prozess von Begreifen und Umsetzung an, in dem
das exakte Lesen der Partitur im Mittelpunkt steht. Anders als
in bisherigen Darstellungen, die mehr von ästhetischen Wertungen
und Kompositionsanalysen ausgehen, soll hier Schönbergs Zeichensprache
genau erfasst werden, damit sie angemessen erklingen kann. Der
Schweizer Pianist und Komponist Dünki gilt als ausgesprochener
Schönberg-Experte. Er kommt aus der Praxis und schrieb sein
Buch für Unterricht und Konzert. Dünki studierte in Europa
und den USA. 30 Jahre beschäftigte er sich mit Schönbergs
Klavierwerk. Seit 1984 leitet er eine Klavierklasse an der Musik-Akademie
Basel und unterrichtet weltweit, vornehmlich das Klavierwerk Schönbergs. Über
300 Rundfunksendungen, 22 CDs, darunter Erstveröffentlichungen
von Alban Berg, Max Reger, Franz Schreker, Anton Webern und Alexander
von Zemlinsky sprechen für seinen künstlerischen Radius.
Zur Debatte kommen die Klavierwerke der mittleren Kompositionsphase
mit freitonalen Werken (1908–1921) und der folgenden Periode
mit zwölftönigen Grundreihen (1921–1951): Drei
Klavierstücke op. 11 (1909), Sechs kleine Klavierstücke
op. 19 (1911), Fünf Klavierstücke op. 23 (1920–1923),
die neunsätzige Suite op. 25 (1925), Klavierstück
op. 33a, Klavierstück op. 33b (1928/1929) und das
erste größere Solo mit Kadenz aus dem langsamen Satz
des Klavierkonzerts (1942). Nicht berücksichtigt sind die
frühen, von Schönberg selbst nicht veröffentlichten
Drei Klavierstücke (1894) in der Nachfolge von Brahms, dann
die Fragmente zu 17 Klavierstücken (vor 1900–1933) und
die Werke für Klavier vierhändig und für zwei Klaviere.
Es handelt sich um meist kleine, kunstvolle Gebilde, das kürzeste
dreißig Sekunden, das längste maximal zehn Minuten dauernd,
je nach Spielart insgesamt eine knappe Stunde. Der romantische,
sich quasi selbst entwickelnde Spielfluss und die große pianistische
Geste fehlen. Dafür steht ein abstrakter Satz auf kleinem
Raum, polyphon gesetzt und oft schwer auszuführen bei einem
durchaus ätherischen und ausdrucksstarken Tonfall. Dünki
versucht, konsequent den „Gehalt“ der Werke aus der
Notation mit ihren Vortragszeichen und Spielanweisungen herauszukristallisieren.
Der Hauptabschnitt seiner Ausführungen gilt den Vortragselementen
mit ihren Verknüpfungen und Abhängigkeiten: Ton und Tonhöhe,
Rhythmus, Takt und Metrum, Tempo und Agogik, Dynamik und Betonungen,
Phrasierung und Artikulation, Haupt- und Nebenstimmen, Klang und
Klangfarbe einschließlich der Pedalangaben, Ausdruckszeichen,
Tempo, Metronomangaben und Fingersätze. Ein unentbehrlicher
Praxisabschnitt bietet zu fast allen Werken ausführliche Spielvorschläge
für Schönberg-Neulinge aber auch für Fortgeschrittene
zum Überdenken ihrer Einstudierungen. Voraussetzung sind dafür,
neben einer erfahrenen Pianistik die Grundlagen der musikalischen
Analyse, des Kontrapunkts und der Formenlehre. Musikbeispiele,
Faksimiles und Tabellen veranschaulichen den Sachverhalt. Schönbergs
Schriften und die Zeugnisse seiner pianistischen Exegeten wie Eduard
Steuermann, Else C. Kraus, Arthur Schnabel, Walter Gieseking, Leonard
Stein werden eingebracht, ebenso eine kleine Interpretationsgeschichte
des Klavierwerks. Zu Steuermann fühlte sich Schönberg
besonders hingezogen.
Ein einleitendes Kapitel bringt Schönbergs musikalische Vorgänger
Bach, Mozart, Mahler und seine Zeitgenossen Reger, Zemlinsky und
sogar Gershwin in Relation. Die Beschäftigung mit anderen
Werken Schönbergs zum besseren Begreifen des Klavierwerks
leuchtet ein, darunter die Fünf Orchesterstücke op. 16,
von Schönberg selbst für Kammerensemble und für
zwei Klaviere zu acht Händen bearbeitet, das zweite Streichquartett
op. 10 und der Liederzyklus „Das Buch der hängenden
Gärten“ op. 15 mit der Nähe zu den Drei Klavierstücken
op. 11. Jean-Jacques Dünki gelingt eine eindringliche,
klar formulierte Darlegung, die auf die praktische Arbeit am Klavier
hinzielt. Das Buch liefert darüber hinaus einen anregenden,
reichen Lesestoff, der überraschende historische und musikalische
Zusammenhänge erschließt. Die große Fülle
der Informationen, bei weit gefächerter Gliederung, erfordert
ein wiederholtes Lesen und Studieren, was ja nur zum Nutzen sein
kann. Ein Register wäre dann sicherlich für andere Ausgaben
recht dienlich. Die beigefügte CD mit besagten Werken gestaltet
Dünki auf Schönbergs Ibach-Flügel von 1912 interessant
und überzeugend individuell. Sie kann jedem Vergleich standhalten.
Alles in allem ermöglicht diese Neuerscheinung einen guten
Einstieg in die kleine und doch so große, revolutionäre
Klavierwelt Schönbergs und fördert damit auch das Verständnis
der so genannten Zweiten Wiener Schule um Schönberg mit Alban
Berg und Anton Webern einschließlich ihrer fulminanten Auswirkung
auf die musikgeschichtliche Entwicklung.