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nmz-archiv
nmz 2007/11 | Seite 43
56. Jahrgang | November
Rezensionen-CD
Drei Opernhäuser und fast fünfzig Orchester
Berlin, Berlin: ein Essay mit CD-Tipp · Von Wolf Loeckle
Vom Arbeiterkampflied zum königlichen Flötenton, vom
multikulturellen Schmelztiegel zum Magneten für die Musikindustrie,
wild als schön, visionär via vulkanisch, nostalgisch
und klassizistisch, exotisch oder ätherisch, raumgreifend
und (in lokaltypisch-üblicher Selbsteinschätzung) der
eigenen Zeit vorauseilend, lässt sich lesen: „Berlin
ist zum ersten Mal erfolgreichstes Bundesland bei ,Jugend musiziert‘.“ Oder:„In
Berlin agier(t)en Künstler, die so schnell nicht vergessen
werden können.“ „Wir sind überzeugt, Berlin
ist von der Weltkarte der Musik nicht wegzudenken.“ „Berlin
ist mal wieder richtungsweisend, in dem, was hier passiert“,
formuliert vollmundig „musicberlin“.
In den Rang einer überörtlich ausstrahlenden Metropole
gelangte Berlin erst als Hauptstadt des Königreichs Preußen;
dem vorherigen Sitz der brandenburgischen Kurfürsten war als
Konglomerat aus zahllosen Dörfern noch keine außerordentliche
Rolle zugekommen. Die preußischen Könige freilich wollten
das anders und forcierten die Entwicklung zum „aufblühenden
Spree-Athen“. Friedrich der Zweite, selbst der Musik in all
ihren Facetten von und mit Herzen zugetan, erreichte (die aufklärerische
Qualität des aktuell-philosophischen Denkens integrierend)
für die Kultur einen ersten Aufschwung.
Der Herrscher umgab sich mit Musikern wie Carl Philipp Emanuel
Bach, Johann Joachim Quantz oder Carl Heinrich Graun. Die Regentschaft
Friedrich Wilhelms des Dritten ist verbunden mit Namen wie Karl
Friedrich Zelter, E.T.A. Hoffmann, Felix Mendelssohn Bartholdy
und Carl Maria von Weber. In den so genannten „Goldenen Zwanzigern“ wirkten
neben den Stars der Popularkultur Arnold Schönberg und Paul
Hindemith, Alban Berg, Kurt Weill und Bert Brecht in Berlin. Der „Bedeutung“ einer
zu entstehen-habenden „Welthauptstadt Germania“ gemäß,
war das Musikleben von den Nazi-Gigantomanen „angedacht“ worden.
Für „Berlin – Hauptstadt der Deutschen Demokratischen
Republik“ komponierten dann Musiker wie Hanns Eisler – partiell
vom utopischen Glauben ans „sozialistische Paradies“ erfüllt.
Als gesamtdeutsche Hauptstadt versucht das geographisch eher abseits
liegende Zentrum eines föderalen Strukturalismus an glanzvolle
Zeiten anzuknüpfen. Nicht nur im Zeitalter ausgedünnter
finanzieller Möglichkeiten ein durchaus ehrgeiziges Unterfangen.
Die Berliner Orchester
„Ich glaube, dass wir unser Konzerthausorchester Berlin als Institution
für unsere Zeit mehr öffnen müssen. Allerdings
nicht mit CrossOver oder so genannter Event-Kultur. Ich hasse
dieses
ganze Chichi. Das ist der absolut falsche Weg“, formuliert
Lothar Zagrosek im Vorfeld seiner Berufung zum Chefdirigenten
des Berliner Sinfonie-Orchesters. Das allerdings aktuell Konzerthausorchester
Berlin heißt. „Als mich meine Freunde fragten, wo
gehst du denn hin, da sagte ich ihnen, zum BSO. Aha, zum Orchester
von
Nagano. Nein, sagte ich, das ist das DSO, das Deutsche Sinfonie-Orchester.
Ich gehe zum Berliner Sinfonie-Orchester. Ach, zu dem Orchester,
das gerade aufgelöst wird? Nein, das sind die Berliner Symphoniker.“ Von
der Auflösung weit entfernt sind die Berliner Philharmoniker
inmitten der Feierlichkeiten zu ihrem 125. Geburtstag anno 2007.
Als „bestes Orchester der Welt“ agieren sie selbstbewusst
und unangekränkelt von Selbstkritik rund um eben diese Welt.
Wer von einem Benjamin Bilse ausgehend, der seine Musiker noch
auf einer Konzert-reise nach Warschau in der vierten (Holz-)
Klasse reisen ließ, die Namen der Berliner Klassedirigenten
vor dem virtuellen Ohr und dem geistigen Auge vorbeiziehen lässt,
dem wird schon leicht schwindelig angesichts der Dimensionen: Hans
von Bülow ist fünf Jahre Chef, Arthur Nikisch inspiriert
von 1895 an für 27 Jahre das „solistische Selbstverständnis“ des „KlangKörpers“,
Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, wieder Wilhelm Furtwängler,
der 1954 stirbt. Auf dessen „musikalischem Erbe“ fundamentiert
die „Ära Karajan“, gefolgt von den „Neuen
Tönen“ eines Claudio Abbado. Aktuell sucht auch Simon
Rattle – wie alle seine Kollegen am Pult der rund fünfzig
Laien- bis Weltklasse-Orchester der großen Stadt an Havel
und Spree –, einer jungen Generation von i-Podianern und
mp3-Ideologen den Zugang in ein bei denen nicht gerade heiß geliebtes
Klassikgelände zu ebnen. Mit durchaus intelligenten Konzepten.
Die Fülle des Wohllauts nicht nur bei den Waldbühnenkonzerten
mit ihrer bunten Generationenvielfalt und lückenlosen Platzauslastung
könnte als womöglich gutes Modell gewertet werden. Gegenwärtig
werben alle Orchester Berlins um neue Publikumsschichten.
Erst die Hemmschwelle senken
Nicht nur die Philharmoniker planen durch die Integration islamischer
Musik die türkischstämmige Bevölkerung anzusprechen.
Ingo Metzmacher, neuer Chef des DSO, des Deutschen Sinfonie-Orchesters
also und folglich Nachfolger von Kent Nagano, der bekanntlich Bayerischer
Generalmusikdirektor ist, denkt da eher von der Musik her: „Für
mich selbst steckt in der klassischen bis zeitgenössischen
E-Musik mehr Bedeutung drin, als oft unterstellt wird. Für
mich ist es wichtiger, die Hemmschwelle zu senken, die einem Konzertbesuch
entgegen steht als mit Multi-Kulti-Projekten Aufmerksamkeit zu
erregen.“ Immerhin positioniert sich Metzmacher in seiner
ersten, der Saison 2007/2008, mit einem deutlich deutschen Akzent.
Akzentuiert geben sich die Opernhäuser von der Deutschen Oper über
die Komische Oper und die Deutsche Staatsoper Unter den Linden
bis hin zur Neuköllner Oper mit ihrem aktuellen „Mooshammer-Projekt“.
Die Berliner Luft ihrerseits akzentuiert die Egomanie der Stadt
ebenso wie ihre unbestreitbare geistige Wachheit, ihre Schnelligkeit,
ihre Offenheit – und auch Überheblichkeit. Im Rivalitätsranking
um die Pole-Position deutscher Kultur-Städte markiert die
Liebesbeziehung zwischen München und Berlin schon einen besonderen
Rang. Einer, der es wissen muss, meinte, dass „Isar-Athen“ und „Spree-Athen“ wohl
irgendwie auf gleicher Augen- und Ohren-Höhe seien. Die musikalische
Bandbreite Berlins jedenfalls sucht ihresgleichen, von Pop bis
Klassik, von Untergrund bis Hochkultur, von PopKomm bis Universal
Music und MTV (ein Sender, der von Hamburg über München
nach Berlin „verzogen“ wurde), von Berlin Classics
bis Sony BMG, einem Unternehmen, das sich mit seiner Music Entertainment
GmbH sehr zur Trauer vieler Berliner wieder in München ansiedelte.
Immerhin dirigiert der in Potsdam lebende Berliner Christian Thielemann
die Münchner Philharmoniker als Generalmusikdirektor der Landeshauptstadt
München und begeistert auch in Bayreuth das keinesfalls nur
aus München stammende Publikum zu Jubelstürmen und minutenlangen
Ovationen. Da rede noch einer von berlinisch-bayerischen Animositäten...
Der CD-Tipp zum Thema
Ute Lemper: Berlin Cabaret Songs. Aus der Serie „Entartete
Musik“. DECCA 452 601
Die zwölf CDs spannen einen Bogen von den ersten Aufnahmen
des Orchesters mit Alfred Hertz und Arthur Nikisch über Furtwängler,
Celibidache, Karajan bis zur Gegenwart mit Simon Rattle. Es handelt
sich dabei um bisher weitgehend unveröffentlichte Aufnahmen,
Rundfunkmitschnitte des ehemaligen Senders Freies Berlin, aber
auch um Neuveröffentlichungen von Aufnahmen, die nicht mehr
erhältlich waren oder bisher nur in nicht zufrieden stellender
technischer Bearbeitung vorlagen. Darin erschließt sich ein
wichtiges Kapitel der Berliner Musikgeschichte. Es gibt eine „normale“ Edition
zum Preis von 129,- Euro oder eine „Limitierte Sonderausgabe“ im
Luxusgewand für 199,- Euro, jeweils neben zwölf CDs mit
opulentem Info-Paket, zu beziehen über den Buch- und Tonträgerhandel
sowie über den online-shop der Berliner Philharmoniker oder über
die Tageszeitung „Die Welt“.