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nmz-archiv
nmz 2007/11 | Seite 44
56. Jahrgang | November
Noten
Bläserquintett – Stiefkind der Großen
Ein Diskurs um Bearbeitungen und Transkriptionen
Eines Tages fragte Richard Pringsheim, Gründer des Raritäten-Verlages
Musica Rara mit seinem Schwerpunkt ungewöhnlicher Bläserbesetzungen,
den jungen Musikwissenschaftler und Spiritus des Bamberger Bläserquintetts
Hermann Dechant, ob er bereit sei, Beethovens Streichquartette
für Bläserquintett herauszugeben. Denn, so argumentierte
Pringsheim, Bläserquintette in Frankreich, USA, Japan et cetera
fühlten sich von der bisher verfügbaren Literatur im
Vergleich zu den Streichquartett-Kollegen unterfordert, andererseits
habe die Bläserausbildung nach 1945 das gleiche Level erreicht
wie die der Streicher. Dechant zuckte zurück – zunächst
wenigstens.
Erst später besann er sich auf Grund reicher eigener Kammermusikerfahrung: „Bläserquintett
ist zweifellos das Pendant zum Streichquartett, aber die „Großen“ der
Musikgeschichte haben in der Tat diese Kategorie links liegen gelassen.
Auch wenn die hübschen Quintette von Cambini, Danzi, Reicha,
Brod, Lachner, Onslow mitunter an der Schwelle der Genialität
stehen, mit den Werken der Großen können sie sich jedoch
nicht messen und so mangelt es an repräsentativen Werken dieses
Genres“, meint Dechant. Ganz wenig vernünftige Werke
aus dem 19. Jahrhundert liegen vor, und erst wieder im 20. Jahrhundert
entdecken Komponisten wie Schönberg, Hindemith, Henze, Milhaud,
Françaix, Ibert, Ligeti oder Kurtag klanglichen Reiz und
Spaß an dieser Besetzung, aber vom Publikum nicht immer sehr
goutiert.
Wenn nun jenseits aller Urtext-Beschwörungen für Drucklegung
und Interpretation unbekümmert die Kreutzer-Sonate in einer
Streichquartett-Fassung im Radio erklingt und heute bedenkenlos
Chopin- und Liszt-Arrangements für Bläser auf den Notenpulten
zu finden und auch zu hören sind, ohne dass sich jemand darüber
mokiert, dann ist dies eben ein Beweis für die Tendenz, dass
inzwischen die „Dinge neu zu sehen“ sind. Gemeint ist:
Sinnvolle Arrangements aus der großen klassischen Kammermusikliteratur
könnten dem Bläserquintett ein erweitertes Repertoire
erschließen. Dies sei, so findet Hermann Dechant, ein großer
vernünftiger, weil zukunftweisender Schritt für diese
Ensemble-Gattung. Denn gegenüber früher werden ihr heute
technisch und musikalisch viel höhere Leistungen abverlangt – und
das kommt dem heutigen hohen Ausbildungsstand und dem zunehmenden
kammermusikalischen Interesse bei Spielern wie Hörern entgegen.
So hat Dechant sich Pringsheims Idee schließlich doch noch
zu Herzen genommen und aufgegriffen, was auch schon zu Lebzeiten
von Haydn und Mozart und fortan bis heute in vielen Variationen
gang und gäbe war und ist, die Bearbeitung bedeutender Musikwerke
als eine vertretbare, weil wünschenswerte Art der „Vermarktung“,
hier zum gefälligen Nutzen traditioneller Bläserquintett-Besetzung.
So sei auf eine inzwischen stattliche Sammlung namhaftester Kammermusikwerke
in der Transkription für Bläserquintett hingewiesen,
die Hermann Dechant besorgt hat und die in jüngster Zeit im
Wiener Verlag Apollon Musikoffizin Austria erschienen sind. Partitur
und Stimmensatz beeindrucken durch gut lesbaren, deutlichen und übersichtlichen
Druck mit verträglichen Wendestellen und mit Auszeichnungen,
die sich an den Urtextausgaben beziehungsweise an den Quellen orientiert.
Allein der Respekt vor dem Original erfordert bei diesen Bearbeitungen – eigentlich
sind es „nur“ Transkribierungen – sehr gewissenhaftes
wissenschaftliches Handeln, immer die Intention des Komponisten
im Bewusstsein behaltend, das Musikwerk als solches in seiner Wirkung
nicht antastend.
Diesen positiven Eindruck vermittelt die Durchsicht einiger Proben
eines insofern durchaus gewagten und mutigen Unternehmens, das
sich vom Bedarf her rechtfertigen und angenommen sein möge.
Als Beispiel: Joseph Haydns wohl populärstes sogenanntes Kaiserquartett
Hob. III: 77 (1797) hat allein schon durch Beliebtheit des Variationssatzes über
Haydns Kaiserhymne zahlreiche Arrangements vertragen (AM 13.801).
Im „Kaiserquintett“ übernehmen hier die bläserische
Ober- und die Unterstimme fast durchweg die gleiche Rolle wie im
Quartett, während die zwei Mittelstimmen nach klanglichen
Effekten auf Oboe, Klarinette und Horn verteilen sind (AM 13.801).
Durch verschiedenartigste Arrangements strapaziert ist auch W.
A. Mozarts vielgespieltes, gerngehörtes Quartett B-Dur KV
458 (1784), das so genannte „Jagdquartett“, hier alias „Jagdquintett“.
Diese Fassung für Bläserquintett (AM 13.802) ist „durch
den Duktus der Streicherstimmen begünstigt, die den Bläserstil
imitieren“, was diesem Opus mit seiner sprühenden Vitalität
wohl später den Beinamen gab.
Ludwig van Beethovens anspruchsvolles Rasumovsky-Quartett F-Dur
op. 59 Nr. 1 (1806), das schon zu des Komponisten Lebzeiten allerhand
Bearbeitungen vertragen musste, wurde hier durch die Bläserfassung
zum Rasumovsky-Quintett I (AM 13.801), die in ihrer klanglich fast
symphonischen Farbigkeit eine besondere Frische ausstrahlt. Die
Bläserfassung von Johann Nepomuk Hummels „Rondò quasi
una Fantasia“ , op. 19 (AM 13.828) für Klavier 1806
in Wien erschienen, ist zweckmäßigerweise von E-Dur
nach F-Dur transponiert, der ursprüngliche Klaviersatz geschickt
und ohne Verluste so verteilt, dass die Stimmen der rechten Klavierhand
im Wechsel von Flöte und Oboe übernommen werden, während
die linke Hand den tiefen Bläsern übertragen bleibt.
Giuseppe Verdis singulares Kammermusikopus, das Streichquartett
e-Moll (1873) sollte aus dem Dornröschenschlaf abgeholt werden,
meint Dechant, „weil sich in diesem eine ganz andere Seite
des Opernkomponisten Verdi als Komponist instrumentaler Kleinform
offenbart, als kühner Harmoniker und Kontrapunktist, dessen
zukunftweisende Visionen bis an Max Reger heranreichen“.
Und zur Gattung „absolute Musik“ gehörig zeigt
sein Quartett eigentlich keine typischen streicherischen Attribute.
Das gerade ermutigte zur Herausgabe dieser Fassung für Bläserquintett,
noch dazu, weil „die Qualität dieses musikantischen
Spitzenwerkes erst durch die unterschiedlichsten Farben der Bläserstimmen
deutlich wird“ (AM 13.813).
Gut zwei Dutzend weitere „famous chamber music“ liegen
bei dem Wiener Verlag inzwischen vor (www.apollon-musikoffizin.at)
und damit wird von Bartók und Brahms bis Smetana, Johann
Strauss und Richard Wagner das Repertoire für interessierte
Bläserquintette ernorm angereichert, selbst wenn es nur zu
Zwecken der Übung und des Kennenlernens, zum Besuch des Bläserquintetts
bei den „Großen“ dient. Auch die mit Bläserquintett
aufbereiteten wohlbekannten Klaviersextette von Nicolai, Pfitzner,
Schubert und Schumann gehören dazu.