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nmz-archiv
nmz 2007/11 | Seite 30
56. Jahrgang | November
DTKV Bayern
Gewandelte Familienverhältnisse
Überlegungen zum Klassenmusizieren (Teil II)
1966 begann der Ungar Paul Rolland an der Universität von
Illinois, USA, eigene Forschungen zur Violindidaktik. Elementare
Bewegungsabläufe wurden für alle Streichinstrumente analysiert,
die Erkenntnisse in einfachen Technikübungen umgesetzt und
die Ergebnisse im Lehrwerk „The Teaching of Action in String
Playing“ zusammengefasst.
Dieses Lehrwerk beruht auf folgenden Unterrichtsprinzipien:
Musik wird durch Musik und nicht durch Theorie erlernt
Alle Bewegungsabläufe betreffen den ganzen Körper
Bewegungsabläufe beginnen grobmotorisch und werden erst später
auf die Feinmotorik übertragen
Das Prinzip „vom Bekannten zum Unbekannten“
Alle Stricharten werden in einfachen Übungen grundlegend
angelegt
Gelernt wird durch das Tun
Ziele des Unterrichts: Spannungsfreiheit und Natürlichkeit
der Spielbewegungen.
In England unterrichtet Sheila Nelson (Schülerin von Paul
Rolland) nach diesem Modell. In Deutschland bildet die „Akademie
für Musikpädagogik, Wiesbaden“ Rolland-Lehrer im
Streicher- und Bläserbereich aus.
(Informationen unter
http://www.musikpaedagogik.de )
Felix Seiffert (Tonkünstlerverband Augsburg-Schwaben), Cellolehrer
an der MS in Ulm, und Karl-Heinz Benzing, Schulmusiker, erteilen
seit vier Jahren Unterricht im Klassenverband an allen Streichinstrumenten
am Ulmer Keppler-Gymnasium. Der mehrjährige Kurs beginnt in
der 5. Klasse und wird zwei- bis dreistündig pro Woche im
so genannten Teamteaching abgehalten. Dabei gibt ein Instrumentallehrer
vor, was zu tun ist, und der andere geht durch die Klasse und korrigiert
die Schüler beim Spiel. Beide Lehrer haben von allen Streichinstrumenten
Kenntnisse, wobei der eine Spezialist für hohe Streichinstrumente
ist, während der andere fundierte Kenntnisse im tiefen Bereich
hat.
Seit einigen Jahren unterrichtet Thomas Seitz (ebenfalls Tonkünstlerverband
Augsburg-Schwaben) Trompete und Posaune an der Realschule Langenau
(BW). Eine Jahreswochenstunde steht ihm zur Verfügung für
Kleingruppenarbeit. So erlernen zum Beispiel vier Schüler
die Trompete. In diesem Kreis werden instrumentenspezifische Schwierigkeiten
erörtert und elementare Spieltechniken erprobt. Zwei weitere
Jahreswochenstunden erhalten die Kinder Unterricht im Klassenverband
(22–26 Teilnehmer). Dort musizieren sie gemeinsam mit Posaunen,
Saxophonen, Klarinetten, Tuben, Euphonien und einem Schlagzeug.
Seitz unterrichtet nach der Yamaha Hal-Leonhard-Schule, die Notenmaterial
für alle Blasinstrumente liefert.
Je nach Zielgruppe gibt es verschiedene Konzepte: In der Grund-
und Hauptschule setzt der Gitarrenunterricht meist bei den persönlichen
musikalischen Erfahrungen an. Das heißt elementare Klangspiele
mit und ohne Instrument werden angeboten, um über eine stärkere
Sensibilisierung zur bewussten musikalischen Interaktion zu gelangen.
Auch Lieder, die sich am Interesse der Zielgruppe orientieren,
werden gesungen, oftmals mit Bodypercussion begleitet, um dann
schließlich auch mit Leersaiten und elementaren Spieltechniken
auf der Gitarre gespielt und gestaltet zu werden.
Die meisten Konzepte, die im Gymnasium eingesetzt werden, orientieren
sich stärker an den Spieltechniken des Instruments. Ziel ist
oftmals eine gemeinsame Aufführung, sei es als Begleitgruppe
zum Beispiel zum Chorgesang, oder als reines Instrumentalensemble.
Damit jedes Kind ein Instrument erhält, wurde zum Beispiel
an einer Grundschule in Norddeutschland ein Elternbrief verteilt,
in dem im Bekannten- und Verwandtenkreis der entsprechenden Kinder
nach nicht mehr benützten Gitarren gefragt wurde. In einem
anderen Fall stellte eine Musikalienhandlung Streichinstrumente
für eine relativ geringe Leihgebühr zur Verfügung.
An wieder einer anderen Schule erhielt diese einen Kredit von der
Kommune zur Anschaffung von Instrumenten. Mit der Leihgebühr,
die die Eltern der Kinder entrichteten, wurde der Kredit abbezahlt.
Sicher gibt es noch andere Möglichkeiten; in jedem Fall kann
mit Ideenreichtum das Problem Instrumentenkauf minimiert werden.
Trotz vieler Disziplin- und Konzentrationsprobleme kann festgehalten
werden, dass durchaus positive Entwicklungen im Sozialverhalten
der Kinder untereinander zu erkennen sind.
Zudem stecken sich die Kinder oftmals in ihrer Bewegungsfreude
an, und so entsteht auch Freude am gemeinsamen Tun. Und last but
not least: Mehr als 50% der Schüler finden zum regulären
Instrumentalunterricht! Die meisten von ihnen wären von sich
aus nie auf die Idee gekommen, ein Instrument zu erlernen.
Selbstverständlich kann der Klassenunterricht einen Einzelunterricht
mit (wenn auch noch so geringem) künstlerischem Anspruch nicht
ersetzen, aber er kann Jugendliche zum Spielen eines Instruments
ermuntern, die sonst nie und nimmer mit aktivem Musik-Machen in
Berührung gekommen wären! Und auch wenn große Teile
eines solchen Klassenverbands vielleicht nie zum Einzelunterricht
animiert werden, haben diese doch mit dieser musikalischen Gruppenerfahrung
eine viel kreativere Art des „Zeit-Vertreibs“ gepflegt,
als wenn sie mit Cola und Chips vor der Glotze gesessen wären
oder auf dem Computer ein geisttötendes Computerspiel gespielt
hätten; und sie werden diese Erfahrung nie ganz vergessen.
Nicht jede musikalische Betätigung muss Kunstanspruch haben!
Das wird heute vielfach vergessen im zeitgeistigen Getue und Geschwafel
um Exzellenz und Elitetum. Ohne eine dilettierende Basis wird sich
die musikalische Exzellenz und Elite nicht auf der Höhe halten
können, auf der sie gerne wäre, sondern irgendwann (und
zwar ziemlich bald!) kläglich auf die Schnauze fallen, weil
sie dann ohne Basis nämlich im luftleeren Raum agiert.
Das Wort Dilettant, das heutzutage fast zu einem Schimpfwort
verkommen ist, hat einmal im Positiven jemanden bezeichnet, der
zur eigenen
Freude (diletto = Vergnügen) etwas betreibt, das er nicht
professionell betreiben kann oder will. Diese „Dilettanten“ tragen
ein funktionierendes Musikleben, nicht die passiven Konserven-Einschalter!
Wer Exzellenz will, muss zuerst in die Breite der Basis investieren!
(Das sei auch den Politikern ins Stammbuch geschrieben...) Es können
also die Instrumentalklassen einerseits einen Beitrag zur Förderung
der Liebhaber leisten, die die besten Konzertbesucher sind, weil
sie ein Quäntchen eigene Erfahrung haben, und andererseits – das
ist wahrscheinlich für uns Musiker das Wichtigste – sind
sie wahrscheinlich der Königsweg, um Nachwuchs für den
Einzelunterricht zu finden; das heißt, sie geben Anregungen
zum späteren Einzelunterricht, sind diesem also vorgeschaltet
und können eine Art Werbemaßnahme für den traditionellen
Instrumentalunterricht bilden, mit der Kreise für diesen erschlossen
werden können, die ohne eine solche „Werbemaßnahme“ niemals
ihr Interesse oder ihre Fähigkeit dafür erkennen hätten
können. So betrachtet verdient diese neue Art des Unterrichts
unser aller Interesse und unsere volle Unterstützung!
Ute Schmid-Holzmann
Sprecherin des Ausschusses „Private Musiklehrer“ im
LVBT
Richard Heller
Vorsitzender des TKV Augsburg-Schwaben und stellv. Vorsitzender
des LVBT