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nmz-archiv
nmz 2007/12 | Seite 5-6
56. Jahrgang | Dez./Jan.
Magazin
Verpflichtung, Menschen für Musik zu begeistern
Ein Interview mit der Verlegerin Barbara Scheuch-Vötterle
zu ihrem 60. Geburtstag
Vor wenigen Tagen feierte die Verlegerin Barbara Scheuch-Vötterle
ihren 60. Geburtstag. Seit mehr als 30 Jahren leitet sie erfolgreich
die Geschicke des Bärenreiter-Verlags, der 1923 von ihrem
Vater Karl Vötterle gegründet wurde. Mit Susanne Fließ sprach
Barbara Scheuch-Vötterle über die Anfänge von Bärenreiter, über
notwendige Neuorientierungen und über die Perspektiven eines
inhabergeführten Musikverlags im Zeitalter des Controllings.
neue musikzeitung: Frau Scheuch-Vötterle, am 27. November
feierten Sie Geburtstag, herzliche Glückwünsche und viel
Erfolg auch im kommenden Lebensjahr! Wie haben Sie den Festtag
denn begangen? Barbara Scheuch-Vötterle: Es gab zunächst einen Empfang
mit den Mitarbeitern im Hause Bärenreiter, am Tag darauf fand
dann in der Alten Brüderkirche in Kassel ein Konzert mit tschechischen
Liedern, gesungen von der Mezzo-Sopranistin Dagmar Peckova aus
Prag, statt. Womit Bärenreiter abermals eine Brücke nach
Prag schlug.
Barbara
Scheuch-Vötterle
nmz: Inwiefern ist Prag ein Bezugspunkt
für Sie? Scheuch-Vötterle: Mein Vater Karl Vötterle hatte schon
in den 50er-Jahren Kontakte zu den tschechischen Staatsverlagen
aufgenommen. Sie mündeten in die Vertretung der tschechischen
Verlage für Westeuropa durch den Bärenreiter-Verlag.
Kurz nach der „sanften Revolution“ haben wir den tschechischen
Staatsverlag Supraphon übernommen, der sich noch vor der Wende
von seiner Schallplattenproduktion getrennt hatte. Bärenreiter
beteiligte sich an der Privatisierung des Verlags, was ein sehr
steiniger Weg war. Den jüngsten Spross haben mein Mann und
ich „Editio Bärenreiter Praha“ genannt, produzieren
inzwischen dort mit großem Erfolg und empfinden Prag als
eine zweite Heimat.
nmz: Seit wann leiten Sie den Verlag
und seit wann ist er Teil Ihres Lebens? Scheuch-Vötterle: Ich bin 1972 in die Geschäftsleitung
bei Bärenreiter eingetreten, aber der Verlag ist eigentlich
seit frühester Kindheit aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken.
Wenn man ins Haus eines Musikverlegers geboren ist, so wächst
man mit und in Musik auf. Der Wunsch mitzuarbeiten, kam sehr früh.
Ich hatte damals gerade begonnen, Jura zu studieren und wollte
mich auf Urheberrecht spezialisieren. Da erkrankte mein Vater schwer
und bat mich, ihn bei der Verlagsarbeit zu unterstützen. Plötzlich
wurde mir bewusst, wie wenig gemeinsame Zeit wir vielleicht noch
miteinander haben würden. So begann ich bei Bärenreiter
eine Verlagslehre und habe noch ein paar wunderbare Jahre an seiner
Seite verbringen können.
nmz: Ihnen geht der Ruf voraus,
den Bärenreiter-Verlag erfolgreich
durch schwere Zeiten manövriert zu haben. Worin bestanden
die? Scheuch-Vötterle: Das Unternehmen bestand
ursprünglich
nicht nur aus dem Verlag, sondern hatte auch die gesamte technische
Verarbeitung im Haus: Setzerei, Druckerei, Buchbinderei. Recht
sorglos wurden alle Umsätze in einen Topf geworfen und dann
umgekehrt aus diesem Topf die einzelnen Betriebsteile bedient,
so dass es keine Übersicht darüber gab, welche Betriebsteile
sich rentierten. Als sich die Situation zuspitzte, beschloss ich
gemeinsam mit meinem Mann, den Bärenreiter-Verlag von einer
Unternehmensberatung durchleuchten zu lassen. Aufgrund dieser Analyse
trennten wir uns von den Betriebsteilen, die nicht wirtschaftlich
arbeiteten, auch wenn das für mich persönlich sehr schmerzlich
war, denn damit war auch die Entlassung von Mitarbeitern verbunden,
die ich seit meiner Kindheit kannte.
nmz: Als der Verlag 1923 gegründet wurde, welchen Schwerpunkt
gab es da und welche Schwerpunkte setzen Sie heute? Scheuch-Vötterle: Der Impuls meines Vaters,
den Verlag zu gründen, kam aus der Wandervogel-Bewegung. Für die „Wandervögel“ wollte
er passende und preiswerte Noten herstellen. Sein Startkapital
waren nicht mehr als 70 tschechische Kronen, damals eine sichere
Währung, denn in Deutschland herrschte Inflation. Dass der
Verlag bald so stark wachsen würde, hat mein Vater sicherlich
nicht erwartet.
Als nächstes öffnete sich der Verlag der evangelischen
Kirchenmusik. Beim Herausgeben der Werke Bachs stellte mein Vater
fest, wie mangelhaft die alte Bach-Gesamtausgabe und auch die alte
Mozart-Ausgabe waren. Das war die Geburtsstunde der Urtext-Ausgaben.
Mit den neuen Gesamtausgaben von Bach, Händel, Mozart, Schubert,
Berlioz und anderen ist Bärenreiter schnell international
bekannt geworden, auch wenn die etablierten Verlage die Vorhaben
dieses enthusiastischen Anfängers zunächst belächelten.
Doch auf diesen großen Erfolgen dürfen wir uns nicht
ausruhen. Wenn Projekte abgeschlossen werden wie die Neue Mozart-Ausgabe,
die Neue Bach-Ausgabe oder die MGG, muss Neues an ihre Stelle treten.
So finden sich heute im Sinne einer Erweiterung des Verlagsprogramms
mit Rossini, Brahms, Elgar, Lalo, Vierne und Rachmaninow Komponisten
im Programm, die für Bärenreiter Neuland sind.
nmz: Eine Reihe junger Komponisten hat ein geistiges
Zuhause unter dem Dach von Bärenreiter gefunden. Wie entsteht der Kontakt
zu ihnen? Scheuch-Vötterle: Mein Mann und ich haben
uns von Anfang an vorgenommen, dass wir nur Komponisten in den
Verlag aufnehmen, deren
Werk und deren Persönlichkeit wir gleichermaßen schätzen.
Denn man kann sich als Musikverleger nicht für einen jungen
Komponisten einsetzen, wenn es menschlich nicht funktioniert, umso
mehr, als viele Gespräche ja nicht im Büro stattfinden,
sondern zu Hause oder irgendwo unterwegs. Nicht wenige „unserer“ Komponisten
sind schon fast Familienmitglieder. Bevor wir neue Komponisten an
das Haus binden, prüfen wir sehr genau. Zum einen empfehlen
die schon festen Komponisten Schüler, die wir uns dann anschauen
und anhören. Zum anderen sind wir beide viel bei Konzerten unterwegs
und hören uns neue Werke an. Michael Töpel, dem Lektor
für Zeitgenössische Musik, und seinem Urteil vertrauen
wir sehr, dazu kommt seit kurzer Zeit noch eine Musikdramaturgin,
Marie Luise Mainz, die sich stark um die Kommunikation zwischen Bärenreiter,
den Komponisten und den Veranstaltern bemüht.
nmz:
Der Markt hat sich in den vergangenen Jahren sehr verschärft
und auch Bärenreiter hat die Aufgabe, sein Verlagsprofil zu
schärfen, neu zu definieren und sich zu positionieren. Scheuch-Vötterle: Aus meiner Sicht ist die
Entwicklung im Musikverlagswesen besorgniserregend. Industrieverlage
kaufen Musikverlage, und die
Eigenständigkeit der
Verlage verschwindet. Statt Fachleute an die Spitze zu berufen, werden
Controller eingesetzt, die nur noch auf die Zahlen schauen. Im Bereich
der zeitgenössischen Musik können die Zahlen natürlich
niemals schwarz sein, denn dort investiert man in die Zukunft, also
schwindet das Engagement für zeitgenössische Musik mehr
und mehr. Genauso werden auch die wissenschaftlichen Bereiche gekürzt.
Es wird nur noch in die Bereiche investiert, die in kurzer Zeit einen
hohen Ertrag bringen. Aber Neue Musik kann man nicht an ihrem Erstumsatz
messen, die Dinge müssen reifen und benötigen auch einen
Schutzraum, um sich zu entwickeln. Ganz zu schweigen von den Mitarbeitern,
die dem Profit geopfert werden. Wir wollen mit unserem Familienunternehmen
ein Gegengewicht zu dieser fatalen Entwicklung bieten.
nmz: Gibt es denn auch Dinge, auf
die Sie ganz persönlich stolz
sind? Scheuch-Vötterle: Alles, worauf ich stolz
bin, oder sollte ich besser sagen, was wir erreicht haben, haben
wir gemeinsam erreicht:
mein Mann, das Team im Hause Bärenreiter und ich. nmz: Immerhin sind Sie ja für die Personalpolitik verantwortlich … Scheuch-Vötterle: Dieses Team von 160 Mitarbeitern,
nicht nur in Kassel, auch in Prag und London, steht hinter dem
Verlag und setzt
sich für die Produkte des Hauses ein. Dass wir diesen Personalstand über
Jahre mehr oder weniger gehalten haben, macht mich zufrieden. Es
ist doch ein großer Unterschied für die Mitarbeitermotivation, ob ein Geschäftsführer
eingesetzt wurde oder ob die Inhaber selbst den Verlag leiten. Und
das schönste Geschenk für meinen Mann und mich war, dass
unser Sohn Clemens inzwischen engagiert und intensiv bei Bärenreiter
mitarbeitet und der Verlag damit später einmal in die Hände
des Enkels übergeht.
nmz: Die Kunde, wie engagiert und
mit wie viel Herzblut Sie die Verlagsarbeit betreiben, hat inzwischen
auch die
Regierung von Hessen erreicht. Scheuch-Vötterle: Im Juli 2007 hat mir der
hessische Kultusminister den Ehrentitel „Professor“ verliehen. Diesen Titel habe
ich allerdings stellvertretend für alle Mitarbeiter hier im
Haus angenommen. Er wurde auch für den gemeinsamen Einsatz im
Bereich Musikpädagogik vergeben, ein Einsatz, den ein Musikverlag
uneingeschränkt leisten muss. Wir können gar nicht oft
genug sagen, was Singen und Musizieren bei Kindern bewirken. Deshalb
müssen alle versuchen, junge Leute das ganze Leben lang für
Musik zu begeistern. Es ließe sich mit vergleichsweise geringen
Mitteln viel erreichen …