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nmz-archiv
nmz 2007/12 | Seite 3
56. Jahrgang | Dez./Jan.
Magazin
Töne bedürfen keiner Worte zu ihrem Verständnis
Ein Porträt zum 100. Todestag des Frankfurter Komponisten
Anton Urspruch
„Verbrennen Sie also ihre Manuskripte nicht, aber bewahren
sie dieselben zur Verbesserung und Abklärung späterhin.
[...] ich [...] empfehle, gewissenhaft und getrost vorwärts
zu streben [...] mit voller Anerkennung Ihrer ausgezeichneten Talente
[...].“ Mit diesem Rat half Franz Liszt seinem „lieben
Schüler und Freund“ Anton Urspruch aus der Schaffenskrise.
Liszt beurteilte die ihm gewidmete „Sonata quasi Fantasia“ op.
1 als „frisch“ und „kernig“, empfahl das „vortreffliche“ Trio
op. 12 befreundeten Künstlern und ließ den 22-jährigen
Urspruch als Solist in dessen Klavierkonzert auftreten.
Am 7. Januar 2007 jährte sich der Todestag Anton Urspruchs
zum 100. Mal. Doch wer erinnert sich noch an den Liszt-Protegé,
der zu Lebzeiten ein international geschätzter Komponist war,
dem zeitgenössische Kritiker den Humor Mozarts bescheinigten
und der als „Nachfolger“ Brahms’ gehandelt wurde?
Anton
Urspruch am Klavier. Foto aus dem Familienbesitz
Urspruch wurde am 17. Februar 1850 in Frankfurt am Main in eine
künstlerisch begabte Familie hineingeboren. Er erhielt Unterricht
von Martin Wallenstein in Klavier und von Ignaz Lachner sowie Joseph
Joachim Raff in Komposition. Für einige Jahre schloss er sich
dem Schüler- und Freundeskreis um Liszt in Weimar an. „Bei
Liszt fand ich eine Aufnahme, welche ich mir auch bei den kühnsten
Träumen nicht hätte ahnen lassen können. Meine Compositionen
haben ihm ganz außerordentlich zugesagt und umarmte und küßte
er mich ein übers andere Mal stürmisch – ebenso
gefalle ich ihm als Pianist.“
In Frankfurt am Main wurde Urspruch an zwei neu gegründete,
zeitweise konkurrierende Institutionen berufen. Zunächst lehrte
er Klavier, dann auch Komposition an Dr. Hoch’s Konservatorium,
dessen erster Direktor Raff war. Nach Raffs Tod erhielt Bernhard
Scholz dieses Amt, der die Kompositionsklasse für sich beanspruchte.
Urspruch kündigte, obwohl sich seine Kollegin Clara Schumann
(Urspruch hat ihr seine Violoncellosonate gewidmet) für ihn
ausgesprochen hatte: „[...] ich glaube, er ist eine gute
Lehrkraft, und ihn ganz zu verlieren wäre schade.“ Bis
zu seinem Tod unterrichtete Urspruch dann Kontrapunkt und Komposition
am Raff-Konservatorium. Zu seinen Schülern zählten Landgraf
Alexander Friedrich von Hessen, Alfred Hertz, später Chefdirigent
des San Francisco Symphony Orchestra und der schottische Pianist
Frederic Lamond.
Das mit 31 Opuszahlen vergleichsweise geringe Œuvre Urspruchs
wurde zu Lebzeiten nahezu komplett gedruckt. Nach den auf Schumann
verweisenden „Fünf Fantasiestücken“ komponierte
Urspruch mehrere Sammlungen von Liedern (nach Heine, später
auch nach Goethe, Jordan und anderen). Eine besondere Popularität
erlangten seine „Deutschen Tänze“. Während
der 17. Tanz in der späteren Version der beiden vierhändigen
Fassungen geglättet und gezähmt erscheint, verblüfft
er in der frühen Ausgabe mit jazzig-virtuosem Ragtime-Schwung.
Das Klavierkonzert, in dem Urspruch häufig selbst als Solist
auftrat, erntete das Lob des Kritikers Eduard Hanslick und führte
Urspruch zu erster internationaler Anerkennung. Mit seiner einzigen
Symphonie in Es-Dur erreichte er der Presse zufolge „einen
Höhepunkt in der Kunst“ und wurde in der symphonischen
Welt auf eine Stufe mit Brahms gestellt.
Nach zwei größeren Kammermusikwerken (Klaviertrio und
-quintett) wandte sich Urspruch der Oper zu. Sinn für Dramatisches
bewies er mit der Großen Oper „Der Sturm“ (bei
dem Libretto handelt es sich um eine Nachdichtung Emil Pirazzis
nach Shakespeare). Sie wurde 1888 in Frankfurt am Main unter der
Leitung von Felix Otto Dessoff uraufgeführt. Von seiner humoristischen
Seite zeigte sich Urspruch mit der Komischen Oper „Das Unmöglichste
von Allem“. Die Uraufführung leitete Felix Mottl in
Karlsruhe, Leo Blech brachte sie in Prag mit gro-ßem Erfolg
auf die Bühne. Das Libretto besorgte der Komponist nach Lope
de Vegas „El mayor imposible“. Die Gesangsoper über
die Unmöglichkeit, ein liebendes Weib wider ihren Willen zu
hüten, zählte als Musterbeispiel, ja als Markstein in
der Entwicklung der deutschen komischen Oper, indem sie mit Wagner
breche und vom Geiste Mozarts („Figaro“) durchdrungen
sei.
Es bleibt Spekulationen unterworfen, wie erfolgreich Urspruchs
letzte Oper „Die Heilige Cäcilie“ geworden wäre.
Leider blieb sie unvollendet. Im Jahr 1906 verschlechterte sich
Urspruchs Gesundheit. Nach einem langen Spaziergang in eisiger
Kälte mit dem Berliner Chordirigenten Siegfried Ochs, der
eine oratorische Aufführung der „Heiligen Cäcilie“ beabsichtigte,
erlag der Komponist einem Zusammenbruch.
Die
Grabstätte von Anton Urspruch. Foto: Brigitte Pinder
Urspruch war weder „Zukunftsmusiker“ noch „Konservativer“.
Er komponierte keine Programmmusik. Zur Aufführung seiner „Frühlingsfeier“ – ein „gewaltiger
Hymnus auf den schaffenden Geist des Weltalls“ nach Klopstock
für Chor, Tenor und großes Orchester – schrieb
er: „Töne bedürfen keiner Worte zu ihrem Verständnis“.
Jedoch räumte er ein, der Tondichter müsse Hörer
und Interpreten (mit Hilfe der Worte) in den Stimmungszustand versetzen,
in dem er sich selbst befand, als er das Werk schuf. Urspruchs
kontrapunktisch und harmonisch versierte, zu großen Dimensionen
neigende Werke knüpfen an Formtraditionen des 19. Jahrhunderts
an. Ihre Originalität liegt im Detail. Zwar findet sich der
Einfluss Beethovens in der Kammermusik und der Mendelssohn Bartholdys
im Chorwerk („Sechs Gesänge“ a cappella op. 15),
eklektizistisch wirkt Urspruchs Musik jedoch nirgends. Der hohe
technische Schwierigkeitsgrad seiner Klaviermusik („Cinq
morceaux“ op. 19) weist auf die Virtuosität bei Liszt.
Die Themenbildung der Symphonik steht in der Nachfolge Brahms’ und
Schuberts, über den er einen Artikel veröf-fentlicht
hat. Urspruch war ein „Moderner“, ohne modisch zu sein, „ein
Stiller im Lande, ein Meister, ein Schönheit-Sucher auf unbetretenen
oder selten begangenen Pfaden“ („Neue Musik-Zeitung“ 1907).
Neben Dessoff, Mottl und Blech haben weitere namhafte Dirigenten
Urspruchs Werke aufgeführt. Julius Buths, Gustav Kogel, Franz
Wüllner und August Grüters dirigierten die „Frühlingsfeier“.
Dieselben Dirigenten setzten sich für Urspruch ebenso ein
wie für Wagner, Brahms, Berlioz, César Franck, Mahler,
Reger, Richard Strauss, Debussy, Elgar und Delius.
Renommierte Verlage veröffentlichten die Werke, so Kistner
und Breitkopf & Härtel in Leipzig, Schott in Mainz, Spina
in Wien und Steyl & Thomas in Frankfurt am Main. Hauptverleger
wurde August Alwin Cranz in Hamburg. Urspruch heiratete Cranz’ Tochter
Emmy 1881 und widmete ihr seine einzige Symphonie. Zusammen hatten
sie vier Töchter. Von seiner jüngsten Tochter Theodora
Kircher-Urspruch stammt eine unveröffentlichte Gedenkschrift
zum 125. Geburtstag ihres Vaters. Die-se Schrift ist bis heute
die wichtigste Quelle über das Leben Urspruchs. Theodora schenkte
1965 den Nachlass der Stadt- und Universitätsbibliothek
in Frankfurt am Main. Dort sind Manus-kripte zu nahezu allen Notendrucken,
die zahlreichen positiven Rezensionen seiner Werke und eine Fülle
von Nachrufen vorhanden – eine Fundgrube für die Musikwissenschaft.
Mittlerweile existieren auch zwei Diplomarbeiten und eine Dissertation
ist in Arbeit.
Für die Wiederentdeckung des einst berühmten Komponisten
setzt sich heute Theodoras Tochter, Frau Veronica Kircher ein.
Die in Münster lebende Enkelin Urspruchs hat zusammen mit
dem Frankfurter Musikwissenschafter Peter Cahn eine Reihe von Konzerten
auf die Beine gestellt. Seit 1999 ist eine Einspielung von Liedern
mit der Sopranistin Heike Hallaschka und dem Pianisten Michael
Biehl bei Dabringhaus und Grimm erhältlich. Der WDR sendete
zu Ostern 2006 einen Mitschnitt der Symphonie. Und der Musikverlag
Robert Carl in Mandelbachtal gibt die Chorwerke neu heraus – es
lohnt sich auf jeden Fall, sie aufzuführen.
Ab dem Jahre 1901 befasste sich Urspruch intensiv mit dem Gregorianischen
Choral. Die Ergebnisse seiner in mehrere Sprachen übersetzten
Schrift „Der Gregorianische Choral und die Choralfrage“ sowie
weiterer, unveröffentlichter Schriften diskutierte er 1905
auf dem Choralkongress in Straßburg und 1906 in einer Privataudienz
mit Papst Pius X. in Rom. Geprägt von Liszts Auffassung vom
Künstlerdasein und der Freundschaft mit Vincent d’Indy,
dessen Werke ebenfalls die Auseinandersetzung mit dem Gregorianischen
Choral verraten, führte Urspruchs Weg über Bach und Palestrina: „Man
kann die moderne Musik nicht verstehen, wenn man Bach nicht versteht,
denn alle sogenannten Errungenschaften moderner Technik und besonders
Harmonik hat Bach schon vorweggenommen. Bach aber wird man nicht
verstehen, wenn man Palestrina nicht kennt, und Palestrina versteht
man nicht ohne den Gregorianischen Choral.“ So knüpfte
Urspruch Kontakte zu den Benediktinerklöstern in Beuron und
Maria Laach, deren Chorleiter er beriet. Er beabsichtigte, „einen
Jahrtausende alten Kronjuwel“ abendländischer Musik
in der melismenreichen Lesart nach der Ausgabe der Benediktiner
von Solesmes (Frankreich) gegenüber der „vereinfachten“, „offiziellen“ Regensburger
Ausgabe in der Liturgie wiederzubeleben. Von ästhetischen,
pädagogischen und religiösen Aspekten geleitet übte
er Kritik an der gegenwärtigen, mehrstimmig verzierten Musik,
die der Instrumental- gegenüber der Vokalmusik den Vorrang
gebe, am „derben“ Dur-Moll-System kranke und in der „Zwangsjacke
des Taktes“ stecke. Eine kompositorische Anwendung erfolgte
in dem Hymnus „Ave maris stella“ op. 24 und in dem „Kyrie“ aus
der unvollendeten „Missa Lux et origo“ (Festgesang
zur Enthüllung des Raff-Denkmals).
Mit der Besinnung auf die „feine Charakterisierungskunst“ der
alten Tonarten und die Fessellosigkeit der Sprache trennte sich
Urspruch vom Zeitgeschmack der Jahrhundertwende, denn „modern“ definierte
er als das, „was in der Mode [...] seine Ursache hat, und
Mode ist nur darum heute Mode, weil sie gestern keine war und morgen
keine mehr sein wird.“ Für heute jedenfalls gibt es
viel Spannendes bei Urspruch wiederzuentdecken.