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nmz-archiv
nmz 2007/12 | Seite 18
56. Jahrgang | Dez./Jan.
Forum Musikpädagogik
Elementare Musikpraxis auf Streichinstrumenten
Das Klassenstreicherprojekt kommt in sein viertes Jahr: eine
Standortbestimmung
Das Klassenstreicherprojekt, ein auf fünf Jahre angelegtes
Kooperationsprojekt der Helmut-Behn-Stiftung und der Hochschule
für Musik Köln, befindet sich mittlerweile im vierten
Jahr. Auch wenn an den beiden ausgewählten Partnerschulen,
der Gemeinschaftsgrundschule Balthasarstraße und der Mathilde-von-Mevissen-Grundschule,
aufgrund der unterschiedlichen Situationen entsprechende Modifikationen
vorgenommen wurden, lässt sich die Organisationsstruktur des
Klassenstreicherprojekts wie folgt skizzieren:
In den Partnerschulen spielen alle Kinder für ein bis zwei
Jahre auf einem Streichinstrument. Besonders motivierten Kindern
wird ein weiteres Jahr auf freiwilliger Basis ermög-licht.
In den vergangenen Jahren haben sich über 90 Prozent der Kinder
für die Fortsetzung des Projektes in der vierten Klasse entschieden.
Das Klassenstreicherprojekt wird im Vormittagsbereich und im
Team-Teaching mit den Lehrkräften der Partnerschulen durchgeführt,
was die Identifikation des Kollegiums mit dem Projekt stärkt
und der Musik einen hohen Stellenwert im Schulalltag einräumt.
Ein Team, bestehend aus zwei Studierenden für hohe und tiefe
Streichinstrumente und der Klassenlehrerin, arbeitet in zwei Räumen.
Ergänzt wird dieses Team-Teaching durch die Musiklehrerin,
die in enger Zusammenarbeit mit dem Klassenstreicherprojekt dessen
Inhalte in einer weiteren Musikstunde vorbereitet und vertieft
und zugleich Themen und Lieder als Impuls einbringt. Die teilnehmenden
Lehrerinnen und Studierenden werden in einer gemeinsamen Fortbildung
auf die Inhalte und das Team-Teaching vorbereitet.
Den Abschluss eines jeden Schuljahres bildet ein moderiertes
Konzert, welches die Kinder gemeinsam mit Studierenden der künstlerischen
Hochschulklassen gestalten. Das Konzert wird durch mehrfache gemeinsame
Proben der angehenden professionellen Musikerinnen und Musiker
mit den Kindern in der Schule vorbereitet.
Mit dem letzten organisatorischen Aspekt wird zugleich ein inhaltlicher
Schwerpunkt angesprochen. Während in der ersten Hälfte
des Schuljahres das gemeinsame Singen, Ausprobieren von Klängen,
differenzierte Zusammenspiel und die Wahrnehmung des eigenen Körpers
im Zusammenspiel mit dem Instrument im Vordergrund steht, bereiten
sich die Kinder in der zweiten Hälfte des Jahres auf das gemeinsame
Konzert vor.
Im Gegensatz zu traditionellen Streicherklassenmodellen (Rolland,
Yamaha), die eher durch Imitationslernen auf die schnelle Hinführung
zum Instrumentalspiel ausgerichtet sind, steht im Klassenstreicherprojekt
der allgemeine Zugang zur Musik mit Streichinstrumenten im Vordergrund.
Die Erarbeitung der Lieder im ersten Halbjahr nach Prinzipien der
Elementaren Musikpädagogik soll im Folgenden an dem australischen
Kinderlied Kookaburra verdeutlicht werden. Die Noten, der englische
Text und eine Hörprobe
sind im Internet unter http://www.mtrs.co.uk/rounds.htm abrufbar.
Das Lied wird circa in der dritten bis fünften Stunde eingeführt,
zunächst in folgender deutschen Übersetzung von Wolfgang
Hering: Auf dem Gummibaum sitzt ein Kakadu, Gummibärchen isst
er immerzu. Au, der Kakadu sagt au, mir ist so flau.
Die Einführung in das Thema bildet ein Stimmbildungsspiel,
welches gleichzeitig das innere Hören und Nachvollziehen des
Formverlaufs schult.
Denk mit Die Kinder kauen
imaginäre Gummibärchen und machen dabei
Schmatzgeräusche. Das Lied wird vorgespielt
und von den Kindern hörend und schmatzend mitverfolgt. Wenn
in dem Lied der Ausruf „Au“ dran ist, singen sie an
den jeweiligen Stellen mit und begleiten ihren Gesang mit passenden
Gesten. Die sehr klare Gliederung und die deutlichen Bilder im
Text regen zu einem Bewegungskanon an und ermöglichen ein
körperorientiertes Musikerleben. Die im Folgenden beschriebene
themenimmanente Einführung verbunden mit Stimmbildung, Gehörbildung
und einem Dirigierspiel ermöglicht beziehungsorientiertes
Lernen.
Kakaduchor Dieses Spiel nimmt Bezug auf die unterschiedlichen
Stimmgeräusche
von Kakadus, welche mit der Kopfstimme ausgeführt werden.
Eine kleine Gruppe überlegt sich ein Kakadugeräusch und
macht es den anderen Kindern vor. Ein Kind ist der Kakadudirigent
und zeigt durch verabredete Gesten, zum Beispiel durch leichten
Druck auf den Oberarm beziehungsweise durch ein Tippen auf die
Stirn an, wann die Kakadus beginnen und wann sie aufhören.
Als Variante spielt ein Kind einen blinden Kakadu. Mit einer
mit Kakadus beklebten Brille gilt es, die jeweilige Kakadugruppe
herauszuhören,
während die anderen Kinder das Kakadulied singen. Mit einer
Spielvariante, in der die Kinder mit verschiedenen Lachvarianten
experimentieren, wird der englische Text eingeführt.
Verrückte Tierwelt
Die Kinder erhalten die Aufgabe, sich einen Text zu anderen verrückten
Tieren auszudenken (z.B.: Auf dem Citroën sitzt ein Känguru,
trinkt vom guten Wein und isst Baguette dazu ...).
Für die Arbeit am Instrument haben sich mehrere Spielmöglichkeiten
bewährt. Das Lied wird gesungen und zunächst mit leeren
Saiten im Metrum begleitet. Durch die rhythmische Auflösung
der Begleitung oder Pattern mit gegriffenen Tönen wird die
Heterogenität der Klasse berücksichtigt. Ein weiterer
Teil der Gruppe kann zusätzlich den Bewegungskanon ausführen.
Dem Spiel auf leeren Saiten und dem bewussten Hören der leeren
Saiten gehen folgende Spiele voraus:
Gummibärchenessen
Durch entsprechende Kärtchen wird jeder leeren Saite eine
Gummibärchenfarbe zugeordnet. Ein Kind zieht eine Reihenfolge
von Bären und dirigiert das Spiel der entsprechenden leeren
Saiten. Im nächsten Schritt wird das Spiel umgedreht: Eine
Gruppe von Kindern vereinbart heimlich eine Reihenfolge verschiedener
leerer Saiten und spielt diese vor. Die Kinder der anderen Gruppen
sollen herausfinden, welche Saiten gespielt wurden und dementsprechend
ihre Karten legen.
Als Spielvariante, in der die visuelle Hilfe wegfällt, sitzen
beziehungsweise stehen jeweils zwei Kinder Rücken an Rücken.
Die Kinder mit der Blickrichtung zum Innenkreis spielen eine angezeigte
Reihenfolge von leeren Saiten vor. Die Kinder mit der anderen Blickrichtung
versuchen, die richtigen Gummibärchenkarten zuzuordnen. Auch
die Erarbeitung von Instrumentaltechnik geschieht mit thematischem
Bezug.
Samen picken (Stärkung der Finger der linken Hand)
Auf dem Korpus des Instruments trommelt der Finger mit der Fingerkuppe.
Möglichst jeder Finger soll gleich stark trommeln und rund
wie ein Kakaduschnabel aufgesetzt werden.
Flugstunden des Kakadus (Abstriche mit dem Bogen)
Der Kakadu lernt fliegen.
Er fängt beim Flugplatz (Frosch)
an und läuft zunächst bis zum Ziel, um die Strecke kennen
zu lernen (Bogenstrich). Von dort fliegt er bis zum Fluglehrer
zurück (der Bogen wird durch die Luft geführt), der am
Flugplatz wartet. Die Kinder benennen verschiedene Flugziele (z.B.
Bogenmitte, untere Hälfte, obere Hälfte) und führen
diese gemeinsam aus (simultaner Formationsflug).
Bei der Auswahl der Kinderlieder für das erste Halbjahr, die
Dank der Finanzierung durch die Helmut-Behn-Stiftung als CD produziert
und allen Beteiligten zur Verfügung gestellt werden konnten,
wurde darauf geachtet, ein möglichst weites musikalisches
Spektrum anzubieten. Die angestrebte Vielfalt setzt sich bei der
Auswahl der Konzertstücke im zweiten Halbjahr fort und bezieht
sich auf Ton- und Taktarten, Genres, Epochen, Instrumentierungen
sowie musikalische Parameter und den Ausdrucksgehalt musikalischer
Werke.
Für das nächste Konzert zum Thema Frankreich sind Mitspielarrangements
zu Werken von Jacques Charpentier, Jean-Philippe Rameau, Eric Satie
und Jacques Ibert, aber auch zu französischen Chansons von
Francis Lemarque und von Francis Lai geplant, bevor als Finale „All
you need is love“ von den circa 200 aktiv beteiligten Personen
musiziert wird. Die Musikwerke werden von Studierenden der Hochschule
für Musik Köln gemeinsam mit den Kindern auf der Bühne
präsentiert und durch eine Konzertmoderation sowie Mitmachübungen
und Höraufgaben thematisch miteinander verbunden.
Nach nunmehr über drei Jahren zeichnet sich eine Win-Win-Situation
für alle Beteiligten ab:
Gewinner des Projektes sind natürlich vor allem die Kinder,
die unabhängig vom sozialen Status ihrer Eltern für zwei
bis drei Jahre ein Instrument erlernen und die Faszination eines
Konzerts auf der Bühne miterleben und mitgestalten dürfen.
Gewinner sind aber auch die Eltern, die mit einem Monatsbeitrag
von maximal zehn Euro ihren Kindern einen Zugang zum Instrument
ermöglichen können und darüber hi-naus keine weiteren
Beiträge für das Leihinstrument leisten müssen.
Die Partnerschulen erhalten durch das Klassenstreicherprojekt
die
Gelegenheit, der Musik einen prominenten Platz im Schulalltag einzuräumen.
Das Profil der Schule wird hinsichtlich des instrumentalen Schwerpunkts
erweitert, das kulturelle Schulleben bereichert.
Die Helmut-Behn-Stiftung gab den Impuls zum Projekt und leistete
finanzielle Anschubhilfe. Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass
die erste Partnerschule das Klassenstreicherprojekt eigenständig
fortsetzen will und kann, die erhoffte Kontinuität also gewährleistet
ist.
Die Hochschule für Musik Köln setzt mit dem Klassenstreicherprojekt
ein bildungspolitisches Zeichen, indem sie einerseits die Ausbildung
auf künstlerisch höchstem Niveau mit der Breitenförderung
und der musikalischen Bildung von Kindern verknüpft und andererseits
Studierende aus verschiedenen Studiengängen in einem künstlerisch-pädagogischem
Projekt zusammenführt.
Die Studierenden künstlerisch-pädagogischer Studiengänge
erwerben kontinuierlich für mindestens ein Jahr Erfahrungen
im Großgruppen- beziehungsweise Klassenunterricht. Sie werden
dabei von Lehrenden der Hochschule sowie durch die Klassenlehrer-innen
unterstützt. Darüber hinaus sind sie an der Planung und
Organisation des Kinderkonzertes beteiligt und erhalten neben einem
Einsatzstipendium einen direkten Einblick in ein mögliches
Berufsfeld.
Die Studierenden künstlerischer Studiengänge erleben
in vorbereitenden Schulbesuchen und im Konzert hautnah die Faszination
und Begeisterung, welche die Musik bei den Kindern auslöst.
Dem Klassenstreicherprojekt ist zu wünschen, dass sich noch
viele weitere Gewinnpartner anschließen.
Claudia Meyer und Ulrike Tiedemann
Für weitere Auskünfte stehen wir gerne unter folgender
Adresse zur Verfügung: Prof. Dr. Claudia Meyer/Ulrike Tiedemann,
Hochschule für Musik Köln, Dagobertstraße 38, 50668
Köln