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nmz-archiv
nmz 2007/12 | Seite 46
56. Jahrgang | Dez./Jan.
Bücher
Gemeinschaft für Stahl, Kohle und Poesie
Eine Dokumentation über Europas „empfindliche Alchimie
der Kreativität“
Künstlerisches Schaffen in der
erweiterten EU. Mobilität
und Verantwortung. Deutsch-Französisch-Polnische Konferenz
Warschau 2005, ConBrio, Regensburg 2007, 132 S., Abb., € 14,80,
ISBN 978-3-932581-85-4
Eine „geniale Idee“ nennt Ingo Kolboom das Weimarer
Dreieck, ein politischer Trialog zwischen Deutschland, Frankreich
und Polen, der sich aber noch längst nicht aus dem Schatten
des viel beschworenen deutsch-französischen Tandems heraus
gestrampelt hat. Am 30. November 2005 veranstalteten der Deutsch-Französische
Kulturrat und das Institut Français in Warschau eine deutsch-französisch-polnische
Konferenz zum Thema „Die Bedingungen künstlerischen
Schaffens in der erweiterten EU: Künstler zwischen Glanz und
Elend, Gesellschaft und Staat.“ Die nun vorliegende Dokumentation
der Tagung, herausgegeben von Nele Hertling und Eva Hoffmann-Müller,
zeigt die Lebendigkeit, mit der gerade dieses Dreiergespann die
Frage nach Europa als künstlerischer und nicht als bürokratischer
Idee aufgreift.
Vier Debatten über die Rolle der Kultur beim Zusammenwachsen
der Zivilgesellschaften stehen im Mittelpunkt der Publikation,
die Vorträge und Statements von Bernard Faivre d‘Arcier,
Joachim Fritz-Vannahme, Hans-Herwig Geyer, Volker Hassemer, Nele
Hertling, Ingo Kolboom, Catherine Lalumière, Lidia Makowska,
Corina Suteu, Nike Wagner und vielen anderen vereint. Angesprochen
werden hier Jugendaustauschprogramme, Kulturinstitute und Festivals,
aber auch Probleme des Kulturaustauschs, beispielsweise die insbesondere
bei dramatischen Texten herrschende Sprachbarriere oder Dumping
als Motiv für Kulturmigration, vor allem bei Filmproduktionen.
Jean-Baptiste Joly warnt davor, die Mobilität zwischen Ost
und West zur Einbahnstraße werden zu lassen und aufgrund
des wirtschaftlichen Gefälles zwischen Ost- und Westeuropa
nur den osteuropäischen Künstlern das westeuropäische
Feld zu öffnen.
Bei der Frage nach der Koordination von öffentlicher und privater
Kulturförderung werden Aspekte wie Cultural Industry, Sponsoring,
Anstoßfinanzierung und Grundversorgung diskutiert. Ein derzeitiges
Manko in der Kulturfinanzierung liegt in der fehlenden Zugänglichkeit
zu kleinen Geldmengen. Für kleine Veranstalter ist die Schwelle
der großen privaten und öffentlichen Fonds viel zu hoch,
so dass auch im kulturellen Bereich „Mikrofonds“ eingerichtet
werden müssten. Die Verantwortung des Künstlers im Prozess
des Zusammenwachsens von Europa ist verbunden mit der Suche nach
der „Seele“ Europas. Volker Hassemer präsentiert
sechs Einzelprojekte der Initiative „Europa eine Seele geben“,
die Kultur als bedeutendes Element Europas begreift. Die gesellschaftliche
Rolle des künstlerischen Berufs wird kontrovers diskutiert,
wobei sich abzeichnet, dass West- und Osteuropäer aufgrund
ihrer unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Kommunismus einerseits,
den westeuropäischen Demokratien andererseits ein anderes
Verständnis des Verhältnisses von Kunst und Staat an
den Tag legen. Beide Seiten können dabei noch viel voneinander
lernen. In der letzten Debatte eher technischen Inhalts geht es
um den Schutz geistigen Eigentums, Pirateriebekämpfung, das
europäische Urheberrecht im Gegensatz zum anglo-amerikanischen
Copyright-Prinzip, aber auch die Vorherrschaft der USA im europäischen
Filmsektor und deren mutmaßlich negative Auswirkung auf die
Identitätswahrnehmung Jugendlicher. Eins wird in der Vielfalt
der Beiträge insgesamt deutlich: Es ist nicht Europa, dem
die Seele fehlt, es ist vielmehr der kulturpolitische Verwaltungsapparat
der EU, der der „empfindlichen Alchimie der Kreativität“ gegenübersteht.
Zwischen der künstlerischen und der administrativen Zeit eine
Brücke zu schlagen – darin liegt die Herausforderung
und die zukünftige Verantwortung einer „beseelten“ europäischen
Kulturpolitik. Die vorliegende Dokumentation bietet dafür
zahlreiche Anknüpfungspunkte und wird zum Weiterlesen durch
eine sorgfältig zusammengestellte Linksammlung ergänzt.