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nmz-archiv
nmz 2007/12 | Seite 46
56. Jahrgang | Dez./Jan.
Bücher
In den Fängen des Regimes
Die Berliner Philharmoniker und der Nationalsozialismus
Misha
Aster: „Das Reichsorchester“. Die Berliner Philharmoniker
und der Nationalsozialismus, Siedler Verlag, München 2007,
400 S., Abb., € 21,95, ISBN 978-3-88680-876-2
Variationen mit Orchester.
125 Jahre Berliner Philharmoniker, hrsg. v. d. Stiftung Berliner
Philharmoniker, Henschel Verlag, Berlin
2007, 2 Bde. 422 u. 378 S., Abb., € 39,90, ISBN 978-3-89487-568-8
Die Berliner Philharmoniker bestehen seit nunmehr 125 Jahren.
Aus den Abtrünnigen der Bilse’schen Kapelle von 1872
wurde schon bald eines der führenden Orchester in Deutschland,
manche sagen bis heute: das beste Orchester der Welt. Es ehrt das
Orchester, dass man jüngst den Start in die Jubiläumssaison
mit der Vorstellung des Buches von Misha Aster verband. 70 Jahre
mussten verstreichen, bis die wohl problematischste Phase des Orchesters
durch den jungen kanadischen Historiker aufgearbeitet wurde. Es
ist ein Buch zur deutschen Musikgeschichte, ja überhaupt zur
jüngsten deutschen Geschichte und zeigt, wie gefährdet
jede künstlerische Existenz in totalitären Staaten ist
und welche beschämenden Kompromisse eingegangen wurden, um
Leben und künstlerische Arbeit zu sichern.
Aster hat sein genau recherchiertes, ungemein material- und quellenreiches
Buch in sechs Kapitel und einen Epilog zum Neubeginn ab Mai 1945
unterteilt. Er schildert den Wandel des selbstverwalteten Orchesters
zu einem staatlichen Prestige- und Vorzeigeinstrument, geht auf
die tiefgreifenden Strukturveränderungen ein, ferner Finanzen
und Programmgestaltung und schließlich auf die besonders
ab 1939 mehr und mehr spürbare Beeinflussung durch Goebbels
und das von ihm geleitete Propagandaministerium.
Am Ende der Weimarer Republik war das Orchester trotz seines
Weltruhmes nahezu bankrott. Das Goebbels’sche Angebot, das Orchester
unter die Obhut des Reiches zu nehmen und als „Reichsorchester“ zu
führen, war die Rettung aus höchster Not. Für das
Regime gab es kaum einen besseren „Botschafter deutscher
Kultur“ als eben die Philharmoniker. Dank des überragenden
Prestiges, das Wilhelm Furtwängler als Chefdirigent hatte,
konnten einige Freiräume gewahrt und wiederholt auch neue
erobert werden. Aber letztlich wurde man Instrument in der Hand
des Staates, der es im Innern zu Durchhalteparolen, nach außen
hin zur Propaganda benutzte.
Da man ohnehin das klassische Repertoire von Bach, über die
Wiener Klassiker und Romantiker bis zu Wagner und Strauss bevorzugte
(deren Werke machten in dieser Zeit drei Viertel des Spielplans
aus), gab es – inhaltlich – kaum Reibereien. Aber bei
Reichsparteitagen, bei Hitlers Geburtstag oder bei festlichen Anlässen
musste man bereitstehen. Die größte Vergünstigung
des Regimes war, dass man bis in die allerletzten Kriegstage „UK“,
also unabkömmlich, gestellt war. So blieb das Ensemble fast
vollständig zusammen und konnte bereits zwei Wochen nach der
Kapitulation sein erstes Konzert geben, beginnend mit dem in der
NS-Zeit verfemten Felix Mendelssohn Bartholdy.
Asters Buch, dem man viele Leser wünscht, nicht nur im Bereich
der Musik, entlässt mit der bangen Frage, ob man seinerzeit
nicht – wie der „deutsche Tonsetzer“ Adrian Leverkühn
in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ – dem
Teufel, sprich dem Regime seine Seele verkauft habe. Viel, so bleibt
der Eindruck, hat jedenfalls nicht gefehlt. Das macht auch Wolf
Lepenies in seinem einfühlsamen Vorwort deutlich.
Zum 125. Geburtstag hat sich das Orchester zudem selbst beschenkt.
Die aufwändig gemachten zweibändigen „Variationen
mit Orchester“ präsentieren zum einen Biographien (fast)
aller Orchestermitglieder und alle Programme seit 1982, setzen
also die verdienstvolle Dokumentation von Peter Muck von 1982 bis
zum Sommer 2007 fort. Der größere erste Band enthält
aus der Feder bekannter Berliner Musikjournalisten und -wissenschaftler
24 Essays zur Geschichte der Philharmoniker sowie Beiträge
zu Aufnahmeverfahren, zu Reisen und Gastdirigenten oder zu Möglichkeiten,
neue Hörerkreise zu erschließen. Die reich bebilderten,
meist angenehm kurzweilig und geistreich geschriebenen Texte lassen
125 Jahre Orchestergeschichte von von Bülow bis Rattle Revue
passieren. Hat man allerdings noch das Buch von Aster im Kopf,
dann wirkt manches doch etwas geglättet und zu wenig problembewusst.