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nmz-archiv
nmz 2007/12 | Seite 44
56. Jahrgang | Dez./Jan.
Rezensionen-CD
Fatal bis genial
Der Workshop CD-Kritiken
Die Teilnehmer des Karlsruher Workshops (siehe Seiten 42 und
43) brachten den Entwurf einer CD-Rezension mit, den sie nach der
ersten
Sitzung, bei der die allgemeinen Grundlagen musikkritischer Arbeit
besprochen wurden, definitiv ausarbeiten und am nächsten Tag
zur Diskussion vorlegen sollten. Unverbindliche Vorgabe war die
bei Wergo neu erschienene Porträt-CD von Markus Hechtle. Die
meisten der 26 aktiven Workshopteilnehmer entschieden sich dafür,
nur fünf Rezensionen bezogen sich auf einen anderen Komponisten.
Dass gleich zwei davon hier veröffentlicht sind, ist nicht
nur den besonders gelungenen Texten, sondern auch dem Neuigkeitswert
des Gegenstands zu verdanken: Rued Langgaard und John Tavener sind
Komponisten, die in deutschen Feuilletons praktisch nicht vorkommen.
Der Workshop verlief in einer sehr angeregten Atmosphäre,
Wissensdurst und Diskussionsbereitschaft der Mitwirkenden waren
ungeteilt hoch. Auf die Qualität der Texte traf das nur bedingt
zu. Vielen fehlte der nötige Begriffsapparat, manche hatten
Probleme mit der deutschen Sprache. Auffällig war eine mangelnde
Selbständigkeit im Denken. Die Rezensionen wimmelten von Formulierungen
und Argumentationen aus dem CD-Booklet. Bei feuilletonistischen
Denkfiguren, die schon im Original arbiträr wirken, sind solche Übernahmen
besonders fatal, weil sie – abgesehen von der Nullinformation – sich
zu Floskeln verdichten, die die Rezeption verstellen. Die Abschlussdiskussion
hat in diesem Punkt vermutlich klärend gewirkt, nicht zuletzt
dank der Anwesenheit von Markus Hechtle. Er machte klar, dass die
Kritik dem Komponisten einen Bärendienst erweist, wenn sie
die über ihn einmal in die Welt gesetzten Meinungen einfach
reproduziert. Dass aber auch unter den notorisch beengenden Verhältnissen
der Musikkritik – vorgegeben waren 1.800 Anschläge – Texte
entstehen können, die einen frischen und unverstellten Zugang
zur Musik ermöglichen, lässt sich an den besten Arbeiten
dieses Workshops ablesen.
Max Nyffeler
Höhenflüge jenseits der Avantgarde
John Tavener: Werke für Violoncello. Raphael Wallfisch, Royal
Philharmonic Orchestra, Ltg. Justin Brown. In der Reihe „Quadromania.
Music of the 20th Century”, Membran 222190-444.
Wie sich ein junger Vogel in die Lüfte schwingt, an Höhe
gewinnt und dahingleitet, gespannt und zugleich berauscht über
sein eigenes Fliegenkönnen, so tastet sich das Cello in John
Taveners „Protecting veil“ mit verhaltener Spannung
in die hohen Lagen. Und die Interpretation des Cellovirtuosen Raphael
Wallfisch, begleitet durch das Royal Philharmonic Orchestra, verdeutlicht:
Da ist ein Raum, der sich weit über
alle Resonanzräume erhebt, offen ist und doch Geborgenheit
bietet.
Was die drei Stücke von John Tavener auf der ersten CD aus
der Porträtsammlung avantgardistischer Werke vereint, ist
das durchgehend weiche Timbre und das Fehlen scharfer Dissonanzen,
wie sie Hörer moderner Musik fast zwingend erwarten. Wie zahlreiche
andere Werke des Londoner Komponisten vermitteln die auf einfache
Konsonanzen reduzierten Klänge der Werke Taveners den Eindruck
disziplinierter Ruhe. Dabei wird die strenge Klang-ökonomie
des melodietragenden Instrumentes unterbrochen von Orchestereinsätzen,
die in Klangfarbe und Ausdruck intensiv hervortreten.
Ob die Werke des Kompositionsprofessors am Londoner Trinity
College freilich passende Beispiele für avantgardistische Musik darstellen,
ist fraglich. Fraglich, weil die Avantgarde den ideologisch behaupteten
Vormarsch gegen eine schal gewordene Musiktradition meint. Und
weil der 1944 geborene Schöpfer unzähliger sakraler Werke
mit seiner Vorliebe für viktorianische Hymnen und seinen Vorbildern
Ligeti, Boulez und Messiaen an Traditionen anknüpft, ohne
sie zu verleugnen.
Wenn der durch Strawinskys „Canticum Sacrum“ zur Komposition
Inspirierte mit etwas bricht, so mit der Vorstellung, Musik müsse
hochreflexiv sein, um Wert zu besitzen. Taveners Klänge erreichen
Flughöhen, doch geschieht das stets von einem festen Grund
aus.
Astrid Mader
Astrid Mader, Jahrgang 1978, ist promovierte Philosophin und
absolviert zur Zeit ein Volontariat im Furore-Verlag in Kassel.
Komponist zwischen
den Zeiten
Rued Langgaard: Violin Sonatas Vol. 2. Serguei Azizian, Violine;
Anne Øland, Klavier. DACAPO CD 8.226006 (2003). Spieldauer:
66 Minuten.
Die wechselvolle Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
hat bekanntermaßen tiefe Spuren in der Musikästhetik
hinterlassen. Dies zeigt auch das ungewöhnliche Schaffen eines
hierzulande noch weitgehend unbekannten dänischen Komponisten:
Der zeitweise als avanciertester Nachwuchskomponist seines Landes
gehandelte Rued Langgaard (1893–1952) hatte sich schon zu
Lebzeiten mit seiner radikalen Rückkehr zur Klangwelt der
Romantik ins Abseits der Musikgeschichte katapultiert; so blieb
auch sein originelles, von absurden Zügen gezeichnetes Spätwerk
zunächst lange verborgen, ehe in Dänemark eine mittlerweile
rege Langgaard-Rezeption eingesetzt hat. Die vorliegende, erstmalige
Gesamteinspielung der späten Werke für Violine und Klavier
durch Serguei Azizian und Anne Øland kann als ein geeigneter
Einstieg in das umfangreiche und vielschichtige Œuvre des
Komponisten empfohlen werden – findet sich hier doch der
musikalische Grundkonflikt zwischen Romantik und Moderne in geradezu
essentieller Weise verdichtet: Der für Langgaard typische,
ganzheitliche Kunstanspruch mit den offenen religiösen Bezügen
ist dabei ebenso zu erkennen, wie etwa sein kraftvoll-distanzierter
Gebrauch der romantischen Idiomatik, der naive Umgang mit minimalistischen
Passagen oder eine bisweilen webernsche Kürze der musikalischen
Form.
Den unvermittelt-destruktiven Zügen des Spätstils steht
dabei eine zarte Intimität entgegen, die von den Interpreten
dieser Repertoireeinspielung mit klangschönem Ausdruck vermittelt
wird. Die Freiheit, mit der Langgaard in seinem Schaffen „Musik
diskutiert“, könnte den heutigen Komponisten manche
Anregungen geben.
Martin Staszak
Martin Staszak studierte Musikwissenschaft und setzt zur Zeit
sein Kompositionsstudium bei Heinz Winbeck fort.
Klänge, die zum
Weiterhören animieren
Markus Hechtle: screen, sätze mit pausen, klage, blinder fleck,
still. Ensemble Modern (Ltg. Stefan Asbury), Neue Vokalsolisten
Stuttgart (Ltg. Manfred Schreier), NewEars.Ensemble (Ltg. Jonathan
Stockhammer) und andere. Edition zeitgenössische Musik des
Deutschen Musikrats. WERGO 2007, WER 6570 2, Spieldauer: 67,32
Minuten.
Da ist einer unterwegs, neugierig, Ohren geöffnet, alles
ist möglich. Eine direkte und bewegte Gegenwart öffnet
sich auf der Portrait-CD von Markus Hechtle. Der Hörer kann
sich nicht zurücklehnen und neutral distanziert deren Aufbau
und Entwicklung verfolgen. Die Musik zwingt zum Mithören und
Unterwegssein. Fragmente, vertraute Gesten, Pausen, Unerwartetes,
Komisches, Penetrantes – der Klang und mit ihm das Ohr bewegen
sich ständig zwischen den Ebenen. In „Sätze mit
Pausen“ breitet sich der Gitarrenklang bedächtig über
die langen Pausen hinweg aus und wird allmählich verlängert
und erweitert durch die nachklingende Klarinette und die Streicher. „Screen“ platzt
dagegen mit lauten Schlägen und vollem Register aus allen
Nähten und bringt überraschende neue Klanggestalten hervor. „Klage“ für
Stimmen erhebt sich aus der Stille auf verschiedenen Ebenen, die
neben-, über- und durcheinander präsent sind: Aufschrei,
Flüstern, Gesprochenes, Gesang. In „Blinder Fleck“ wird
eine Trompetenfanfare verdichtet und gedehnt, um dann abrupt wieder
einzusetzen und eine andere Richtung zu suchen. Anders als dieses
ritornellhafte Kreisen erweckt „Still“ den Eindruck,
ohne Anfang und Ende zu sein. In einer Art Hörspiel mit Sprecher,
Sängern und Akkordeon ist hier ein Gedicht von Giacomo Leopardi
vertont. Markus Hechtles Musik weckt Assoziationen, sei es durch
vertraute Klänge oder durch den oft sprunghaften Weg, der
das Verschiedene auf ungewohnte Weise verknüpft. Jedenfalls
lernt man beim Mithören die vielen Pausen zu schätzen – Zeit,
die die Gesten nachklingen lässt und einen zum Weiterhören
animiert.
Lena Sperrfechter
Lena Sperrfechter studiert im 9. Semester Instrumentalpädagogik
an der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“ in
Dresden.