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nmz-archiv
nmz 2007/12 | Seite 47
56. Jahrgang | Dez./Jan.
Rezensionen - DVD
Musikalisches Kontinuum
Opern des 20. Jahrhunderts auf neuen DVDs
Stetig wächst das auf DVD verfügbare Opernrepertoire
und erfreulicherweise spielt auch das 20. Jahrhundert zunehmend
eine Rolle. So kommt es zu dem luxuriösen Umstand, dass von
Paul Hindemiths epochaler Künstleroper über den mordenden
Pariser Goldschmied Cardillac gleich zwei Produktionen verfügbar
sind.
Szenisch vermag dabei Jean-Pierre Ponnelles Mitte der 1980er-Jahre
erfolgter Rückgriff
auf die Ästhetik der Stummfilmzeit nach wie vor zu fesseln.
In Pet Halmens monochrom ausgeleuchtetem Bühnenbild entfaltet
sich ein intensives, schauspielerisch bewusst übersteigertes
Spiel. Besonders köstlich kommt diese Hommage an das Kino
der 20er-Jahre in der berühmten stummen Mordszene des ersten
Aktes auf überdimensionierten Tigerfellen zur Geltung; die
Chorszenen sind von eindringlicher Präsenz.
André Werners chicke Art-Déco-Möblierung mit
Fantômas-Zitaten (Paris 2005) reicht an diese Eindringlichkeit
nicht durchweg heran; der Eleganz der Interieurs haftet ein etwas
oberflächlicher Glanz an, der nur dort durchbrochen wird,
wo den Sängern über den Konversationston hinaus Gelegenheit
zur Entfaltung gegeben wird. Rhythmisch und sprachlich ist dies
allerdings auch dank Kent Naganos sorgfältiger Durchleuchtung
der Partitur meist prägnanter als bei Sawallischs üppigem,
ein wenig pauschal Strauss’sche Emphase verströmenden
Dirigat, was vor allem Angela Denoke als Cardillacs Tochter gegenüber
Maria de Francesca-Cavazza deutlich überlegen macht. Auch
Alan Held ist der präzisere Goldschmied, erreicht aber selten
die Intensität, mit der Donald McIntyre Ponnelles Konzept
umsetzt.
Die Zeitlosigkeit, die – trotz unterschiedlicher Ansätze – beide
Produktionen für Hindemiths Oper beweisen, kann die eigens
fürs Fernsehen adaptierte Uraufführungsinszenierung von
Pendereckis „Die Teufel von Loudon“ nicht für
sich beanspruchen. Zwar strahlt auch das pseudonaturalistische
Dekor, in dem auf der Grundlage von Konrad Swinarskis Regie Joachim
Hess 1969 den mit rollenden Augen agierenden Sängern
auf Schritt und Tritt folgte, eine Kinoästhetik aus, doch
ist es hier die von zweitklassigen Gruselfilmen. Pendereckis effektsichere,
damals sicher unerhört neue Musik verkommt bisweilen zur Klangtapete
(hier in Mono) für schwülstige Unzuchtfantasien und schwarze
Messen. Ausgezeichnet freilich das von Marek Janowski kompetent
geführte Ensemble, allen voran Tatiana Trojanos, die sich
mit Hingabe in die heikle Rolle der Schwester Jeanne stürzt.
Auch Nikolaus Lehnhoff vermag mit seiner aus London nach Barcelona
exportierten Inszenierung Henzes „Boulevard Solitude“ nicht
durchgängig neu zu beleben. In einer Bahnhofshalle spielen
sich die Stationen im Leben der Manon ab, einer Lulu-nahen Figur,
ohne jedoch deren Vielschichtigkeit zu erreichen. Die immer gleichen
Gänge der Reisenden in den Zwischenspielen – ein sich
zunehmend abnutzender szenischer Effekt – münden in
Lescauts erfolgreicher Suche nach einem Ersatz für die gefallene
Schwester: der Reigen beginnt von Neuem. Musikalisch dank guter
Protagonisten und Zoltán Peskos Sorgfalt aber eine hörenswerte
Produktion mit anrührenden Ovationen für den anwesenden
Komponisten.
Die szenische Großtat in Sachen Karl Amadeus Hartmann kam
im Jubiläumsjahr 2005 aus Stuttgart. Christof Nel reduzierte
seine in vielen Nuancen prophetische Simplicius-Oper von 1935 zu
einem kargen Kammerspiel, dem die Beklemmung der Entstehungszeit
eindringlich eingeschrieben ist. Wie das von der großartigen
Claudia Mahnke angeführte Ensemble, Chor und Kammerorchester
der Staatsoper dies unter Kwamé Ryans präziser Leitung
umsetzte, war ein Ereignis.
Gleiches gilt für David Pountneys spektakuläre, in der
Drastik der Vergewaltigungsszene an die Grenzen des Ertragbaren
gehende Ruhr-Triennale-Produktion von Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“.
Die Verfilmung versucht nicht, die Perspektive der Zuschauer zu
rekonstruieren, die auf fahrbaren Sitztribünen an dem über
100 Meter langen Bühnensteg entlang bewegt wurden. Vielmehr
fängt sie die einzigartige, angemessen bedrohliche Stimmung
der Bochumer Jahrhunderthalle ein, die wie geschaffen scheint,
Zimmermanns Vision eines musikalischen Raum-Zeit-Kontinuums zu
beherbergen. Sensationell auch die bis in die Nebenrollen präzise
Besetzung und Steven Sloanes Koordinationsleistung am Pult der
Bochumer Symphoniker.
Juan Martin Koch
Hindemith: Cardillac (Regie: Jean-Pierre Ponnelle). Donald
McIntyre, Maria de Francesca-Cavazza, Robert Schunk, Bayer. Staatsorchester,
Wolfgang Sawallisch. DG 004400 073 4324
Hindemith: Cardillac (Regie: André Engel). Alan Held,
Angela Denoke, Christopher Ventris, Orch. de l’Opéra
national de Paris, Kent Nagano. Mit Bonus-Film: „Discovering
an Opera“.
Bel Air BAC023
Penderecki: Die Teufel von Loudon (Regie: Konrad
Swinarski/Joachim Hess). Tatiana Troyanos, Andrzej Hiolski, Bernard
Ladysz. Hamburger
Philharmoniker, Marek Janowski. Arthaus 101 279
Henze: Boulevard
Solitude (Regie: Nikolaus Lehnhoff). Laura Aikin, Pär Lindskog,
Tom Fox. Orch. Gran Teatre del Liceu, Barcelona, Zoltán
Pesko. EuroArts 2056385
Hartmann: Simplicius Simplicissimus (Regie:
Christof Nel). Claudia Mahnke, Frank van Aken, Heinz Göhrig.
Staatsorchester Stuttgart, Kwamé Ryan. Arthaus 101 255
Zimmermann:
Die Soldaten (Regie: David Pountney). Claudia Barainsky, Claudio
Otelli, Peter Hoare, Frode Olsen. Bochumer Symphoniker,
Steven Sloane. RuhrTriennale