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nmz-archiv
nmz 2007/12 | Seite 45
56. Jahrgang | Dez./Jan.
Noten
Ohne viele Umstände die Wege reflektieren
Peter Gülke studiert die neue Editon der fünf „großen“ Ouvertüren
Beethovens
Ludwig van Beethoven: Die Fünf Gro-ßen Ouvertüren.
Coriolan. Die Geschöpfe des Prometheus; Egmont; Fidelio; Leonore
Nr. 3, herausgegeben von Helmut Hell, Klaus Kropfinger, Hans-Werner
Küthen und Christian Rudolf Riedel, Mainz (Breitkopf & Härtel)
Man könnte darüber ins Grübeln kommen: Sofern die
Differenz zur „Leonore II“ nicht jemanden stutzig gemacht
oder er gefragt hat, ob zu dem Unisono nicht ein dominantischer
Ansprung gehöre, haben die Geiger bei der meistprobierten
Stelle der dritten „Leonoren“-Ouvertüre (Takt
514) mit einer falschen Note, c’’ statt d’’,
begonnen. Fast 200 Jahre nach der Entstehung haben wir es amtlich,
und die Sache ist so plausibel, dass man sich fragt, weshalb es
dieses Nachweises bedurfte. Er gehört zu den spektakulären
Ergebnissen der neuen, von dem traditionsreichen Verlag besorgten,
drucktechnisch hervorragenden Ausgabe der „Fünf Großen
Ouvertüren“. Die Betitelung – sind „Leonore“ I
und II oder „Die Weihe des Hauses“ nicht „groß“? – mochte
als Klammer notwendig erscheinen, weil zwei editorische Konzepte
zusammentreffen: „Geschöpfe des Prometheus“, „Coriolan“ und „Egmont“ sind
aus der neuen Beethoven-Gesamtausgabe übernommen (dort 1970
bzw. 2004 erschienen), wohingegen „Fidelio“ und „Leonore
III“ von Christian Rudolf Riedel erarbeitet wurden gemäß einem
im Verlag seit längerem verfolgten Konzept, welches praktische
Verwendbarkeit mit wissenschaftlichem Anspruch verbindet. Diese
beiden enthalten eingehende kritische Berichte, im Gegensatz zu
den anderen, deren – seinerzeit separat veröffentlichte – Berichte
nicht beigefügt sind. Weil die Bleiwüsten detaillierter
Revisionsberichte wenig Einladendes haben, weist Riedel mit Fußnoten,
Sternchen und Fettdruck auf kritische Punkte hin, gibt dem Benutzer
also Einblick in die Problematik der Herstellung dessen, was publizitätsbedingt
offenbar „Urtext“ genannt werden muss und doch, genau
genommen, keiner sein kann; nicht zufällig riskiert er in
einem begleitenden Prospekt die contradictio in adiecto „Urtext-Vielfalt“ und
räumt ein, dass ein „endgültiger Urtext“ nicht
erreichbar sei.
Seine ausgezeichnete Arbeit beweist aber auch,
weshalb das, sofern man um ein Äußerstes an Annäherung
bemüht bleibt, nicht nötig ist – abgesehen davon,
dass ein absolut verstanden „endgültiger“ Text
die Frage angemessener Realisierung, mindestens angemessener Lektüre
nach sich zöge. Wer aber gäbe uns Gewähr, dass wir
die Texte genau so lesen, wie sie gelesen sein wollen? Solcher
Unsicherheiten wegen erscheint wichtig, dass Editoren nicht einfach
Ergebnisse vorlegen, sondern, so weit ohne viel Umstände möglich,
die Wege reflektieren, auf denen sie zu ihnen gelangt sind; die
meisten ambitionierten Musiker werden es ihnen danken. Nicht zuletzt
geben Quellenbefunde – bei den mit „Fidelio“ verbundenen
Ouvertüren trotz jüngerer Entdeckungen und Klärungen
kompliziert bis miserabel – über Entstehungsumstände,
also auch über die Musik Auskunft; Riedels Berichte, solide
Philologie und zugleich mehr, belegen es eindrucksvoll. Das Nebeneinander
zweier editorischer Konzepte in den „Fünf Großen
Ouvertüren“ erscheint delikat, weil der traditionsreiche
Verlag längst mit eigenen Neuausgaben auf den unerträglichen,
der sterilen Unterscheidung praktischer und wissenschaftlicher
Edition geschuldeten Umstand reagierte, dass die vom Beethovenhaus
Bonn betreute Gesamtausgabe nach fast 50 Jahren ganze zwei Sinfonien
vorgelegt hat. Das ließ den Eindruck entstehen, den Verantwortlichen
bedeute der Hinblick auf die Praxis wenig und schlägt mittlerweile
zurück als Frage, wer die ausstehenden Sinfonie-Ausgaben überhaupt
noch brauche, nachdem die Stücke in mehreren gut recherchierten
Neu-Editionen vorliegen und substantielle Veränderungen im
Textstand kaum zu erwarten sind. Dergestalt erscheint die Zusammenarbeit
wie eine späte Zuflucht beim Praxisbezug. Angesichts der hier
dokumentierten hohen editorischen Ansprüche erscheint bedauerlich,
dass es offenbar nicht möglich war, eine naheliegende Konsequenz
zu ziehen: die Berichte der „Coriolan“-, „Egmont“-
und „Prometheus“-Ouvertüren im Sinne der verlagsüblichen
Handhabung aufzuarbeiten und beizufügen.