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nmz-archiv
nmz 2008/02 | Seite 5
57. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Gefühlssturm im U-Bahnhof
Purcells „Fairy Queen“ beim NRW-Theaterfestival „Impulse“
Für
die Schlagzeilen sorgten andere. Charme hatten sie alle. Unter
den zum NRW-Theaterfestival „Impulse“ eingeladenen
Produktionen der freien Szene gefiel auch die einzige Musiktheater-Produktion
dieses Festival-Jahrgangs. Obwohl bereits im Herbst 2005 in den
Berliner Sophiensälen uraufgeführt, ist die mit Thomas
Bernhard aufbereitete Purcell-Adaption erst jetzt in den Impulse-Fokus
geraten. Eine Nachlese.
Moment mal! Wann genau soll das gewesen sein? Einen Berliner
U-Bahnhof, in dem der Kachelschmuck von den Wänden fällt, gab’s
doch noch nicht einmal im Osten. Was es soll, liegt im Fall solcher Überblendung
der Wirklichkeit mit den märchenhaften Bildern von der
Wirklichkeit auf der Hand. Der junge ungarische Regisseur David
Marton will nicht von der Realität erzählen, eher schon
von den Gefühlen und Sehnsüchten, die sich hinter den
Masken der Realität verbergen und die nur darauf warten, dass
sie sich offenbaren können. Deshalb ist es egal, ob’s
realistisch zugeht. Es muss nur ein Holzschnitt sein. Erst dieser
legt die Konturen frei.
Hier ist es der diskrete Charme des Abfertigungshäuschens
im U-Bahnhof Berliner Prägung. Dorthin zieht sich das Personal
zurück. Und dort dürfen wir auch beim Ausplaudern des
Traumvorrats zuschauen und zuhören. Zweiter emotionaler Entladungspunkt
ist ein Diensttelefon am Bahnsteig, Farbe Gelb mit Bedienklappe.
Immer wieder rappelt es dort. Dann stürzen die Protagonisten
herzu als gelte es das Leben. Der etwas nostalgische Realismus
dieser ins Unterbewusstsein abgesunkenen U-Bahnwelt mit Sirene
und Blinklicht, adaptiert aus dem Bilderfundus des zweiten Drittels
des letzten Jahrhunderts, dient wie in den schönsten Marthaler-Inszenierungen
auch hier einzig der Entfaltung der Poesie. David Marton, langjähriger
Wahlberliner, ausgestattet mit einem Blick für die Rituale
der Großstadt, lässt das Spiel kongenial anheben mit
eben solchem Déjà-vu.
Ohrenbetäubender Lärm, das Geräusch quietschender
Bremsen. Über eine schwungvoll sich öffnende Waggontür
werden die Insassen hinausgespült – in diesem Fall die
Akteure von „Fairy Queen oder: Hätte ich Glenn Gould
nicht kennen gelernt“, unschwer als Doppelverbeugung erkennbar:
Hier Purcells Anverwandlung von Shakespeares „Sommernachtstraum“,
rigoros heruntergekürzt auf eine neunköpfige Besetzung,
dort Thomas Bernhards „Der Untergeher“, das Dokument
einer durch große Kunst ausgelösten großen Schaffenskrise.
Auf den Transport von Text-Inhalten verzichten Marton und seine
Dramaturgin Amely Haag. Wenn es Bassist und Kontrabassist Radoslav
Drechny als Touristenführer trotzdem probiert, werden seine
englisch rezitierten Inhaltsangaben alsbald zugedeckt von den Mitteilungen
der anderen, von ihrem Spiel, ihrem Singen, Sinnen und Klagen.
Was bleibt in aller Verwandlung, ist eine wunderbare Musik, die
auch in dieser erhellend-verfremdenden Produktion als fulminante
Liebeserklärung gehört wird. Mit Akkordeon, Kontrabass,
Trompete (Paul Brody), Keyboard, vor allem aber viel Gesang reitet
ein im schmuddeligen Alltagslook gewandetes Ensemble auf den Gefühlen,
die die Großstadt so mit sich bringt.
Musikalischer Kopf der neunköpfigen Berliner Off-Gruppe ist
Jan Czajkowski. In ihm begegnen sich nicht nur ein meisterhafter
Pianist und Liedbegleiter, auch darstellerisch vermag der gebürtige
Pole zu überzeugen.
Das Ende vom Lied: Yelena Kuljic, anonymer Fahrgast wie alle,
die hier gestrandet sind, singt sich diesen babylonischen Gefühlssturm
aus Hoffnung und Verzweiflung, Verlorenheit und Verwegenheit von
der Seele. Schluchzender souljazziger Sprechgesang, regredierend
in den Laut. Zuvor schien das Leben eines anderen Einzelgängers
(Thorbjörn Björnsson, Bariton) eine Wendung nehmen zu
können. Am U-Bahnhof Rosa-Luxemburg-Platz war es, wo er SIE
getroffen, sich aber „nicht getraut“ hat. Jetzt sucht
er SIE, posaunt seine Telefonnummer hinaus. Vielleicht ruft
SIE ja an! Und dann klingelt es tatsächlich. Doch eine andere
Wartende und Hoffende, die aus dem Abfertigungshäuschen,
kommt ihm zuvor. Hallo? Wer ist da?