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nmz-archiv
nmz 2008/02 | Seite 18
57. Jahrgang | Februar
Kulturpolitik
Wenn die Musik auf Rädern ins Haus kommt
Der dritte und vierte Lebensabschnitt als Chance für die Erkundung
musikalischer Kreativitätspotenziale
Die Menschen in Deutschland werden weniger und älter. Und
die Älteren haben immer mehr freie Zeit. Die musikschulrelevante
Altergruppe der bis 18-Jährigen dagegen (im Durchschnitt 85
bis 95 Prozent unserer Musikschulschüler) wird bis 2020 um
etwa 16,6 Prozent kleiner werden. So belegt es eine soziodemographische
Analyse, die im Jahr 2006 in Niedersachsen veröffentlicht
wurde.
Die nachberufliche Phase, etwa ab dem 60. Lebensjahr, kann mittlerweile
30 Jahre und länger dauern. Die durchschnittliche Lebenserwartung
der Männer beträgt 85 Jahre, die der Frauen 88. Im Jahr
2025 soll mehr als ein Drittel der Bevölkerung mindestens
60 Jahre alt sein. Die Hochaltrigkeit nimmt zu. Schon jetzt sind
mehr als 3.000 Menschen im Land mindestens 100 Jahre alt. Man redet
von einer „Gesellschaft des langen Lebens“ – aber
auch von „späten Freiheiten“.
Zwangsläufig ist das Altern ein Abbauprozess, ist oft mehr
oder weniger, aber doch meist zunehmend gekennzeichnet von Krankheit,
Einsamkeit, Armut, Passivität, verminderter Anpassungsfähigkeit,
verminderter Leistungsfähigkeit. Doch auch vom „erfolgreichen,
neuen Altern“ ist die Rede. Ungenutzte Kreativitätspotenziale
werden gesehen. Wissenschaftliche Untersuchungen bescheinigen den
alten Menschen großes Interesse an kreativen Aufgaben und
Aufgeschlossenheit gegenüber eigenen gestalterischen Möglichkeiten.
Das Erfahrungspozential der Alten wird gesehen, ihre Ressourcen
und Kompetenzen. Auch ihre Visionen und Wünsche werden interessierter
als bisher wahrgenommen. Die Politik redet von der „Macht
des Alters“. Die Wirtschaft sieht das Alter als stetig wachsendes
Marktsegment. Senioren beziehen typischerweise regelmäßige
Zahlungen aus einer Altersversorgung. Die Regelmäßigkeit
des Einkommens der Besserverdienenden macht diese zu einer wichtigen
Zielgruppe für das Marketing. Das „Erfolgreiche Altern“ steht
also gegen das „Defizitmodell“. Es gibt mittlerweile
eine „Aktivitätstheorie“, eine „Kontinuitätstheorie“ und
eine „Kompetenztheorie“.
Zunächst gibt es ein Begriffsproblem. Wie wollen wir sie eigentlich
nennen? Sind Begriffe wie „Senioren“ oder „ältere
Menschen“ nicht Verlegenheitsbegriffe? Sollten wir besser
offensiver von den „Alten“ reden? Eine neue Wissenschaft
ist schon da: die „Musikge-ragogik“. „Sie umfasst
alle musikpädagogischen Bemühungen und Interventionen
im Bereich der Altenarbeit, die nicht erzieherisch oder therapeutisch
intendiert sind, und zielt auf die Unterstützung musikalischer
Bildung und musikbezogener Erfahrungen im Alter“ (Theo Hartogh).
Da geht es um gerontologisches Basiswissen, die Phänomenologie
des Alters, die Beziehungen zwischen alten Menschen und Musik,
um spezifische musikpädagogische Methoden, alterspsychologische
Grundlagen, um den Umgang mit Hörproblemen, abnehmender Flexibilität
der Stimme, abnehmender Beweglichkeit, um Gedächtnisverluste
und Demenz.
Was kann die Musik für die Alten tun?
Immer schon gibt es Unterricht oder einfach nur Musizieren mit
Erwachsenen im berufsfähigen Alter und mit Menschen in der
nachberuflichen Phase, im „dritten Lebensabschnitt“,
als „nachberufliches Tun“. Das sind Anfänger, „Spätberufene“,
oder Wiedereinsteiger. Viele Ältere singen in Chören
oder spielen in Orchestern. Es gibt Musikarbeit mit den Menschen
im „vierten Lebensabschnitt“, mit den Hochbetagten,
ab etwa 80, meist in Seniorenheimen, Alteneinrichtungen. Hier wird
gesungen, mit Orff-Instrumenten gespielt und man macht „Sitztänze“.
Dies ist das Betätigungsfeld der Elementaren Musikpädagogik.
In Musikschulen und Alteneinrichtungen wird auch „Offene
Musikarbeit“ angeboten. Dies ist kein kontinuierlicher Unterricht,
die Alten kommen, wenn sie können und möchten. Es ist
auch kein zielgerichtetes Tun, sondern ein augenblicksbezogenes.
So entstehen zum Beispiel „Seniorenclubs“ mit einem
bunten Programm. Es wird Musik gemacht oder Musik gehört,
vielleicht wird ein Konzertbesuch vorbereitet oder man beschäftigt
sich mit etwas Musikgeschichtlichem. Dabei trinkt man auch eine
Tasse Kaffee und redet einfach miteinander.
In Alteneinrichtungen und Pflegeheimen gibt es teilstationäre
oder stationäre Musikarbeit. Im Pflegeheim sind oft zwei Drittel
der Menschen über 85 Jahre alt, 35 Prozent sind 90 Jahre und älter,
ein großer Teil in höheren Pflegestufen, mit relativ
kurzer Verweildauer. Hier sind keine langfristigen Projekte möglich.
Gefragt ist geschicktes situatives Reagieren und Handeln, die Angebote
müssen unmittelbar an den aktuellen Bedürfnissen anknüpfen,
in der Regel müssen sie extrem niedrigschwellig sein, damit
Erreichbarkeit noch gegeben ist. Wie kann man Musik machen mit
Menschen, die noch nie in ihrem Leben Musik gemacht haben? Oder
die zwar ein Instrument gespielt haben, es aber aus Altersgründen
nicht mehr spielen können?
Auch Hochalte, deren Aktivitäten in zunehmendem Maße
in der eigenen Wohnung stattfinden, sind in der Regel ästhetisch
interessiert, möchten kreativ sein, möchten Musik hören
und auch selbst musizieren. In Münster und Düsseldorf
wird deshalb „ambulante Musikarbeit“ angeboten, „Musik
auf Rädern“ heißt das in Münster, „Kultur
aus dem Koffer“ in Düsseldorf. Emotionale und ästhetische
Bedürfnisse alter Menschen werden so in ihren eigenen Wohnungen
beantwortet.
Welche musikalischen Möglichkeiten haben die Alten?
Es geht um „aktive Lebensgestaltung“, um aktive Teilhabe,
um mehr Lebenszufriedenheit, um Freude am Tun in der Gruppe. Man
will, „dass etwas los ist“, denn einen „Ruhestand“ soll
es nur im Berufsbereich geben, nicht beim kulturellen und gesellschaftlichen
Tun. Spezielle inhaltliche und methodische Vorgehensweisen werden
entwickelt, differenzierende Musikpraxen für die „Go-Goes,
Slow-Goes und No-Goes“. Eine „Kultur der Muße“ soll
es sein, statt um Funktionieren, Effektivität, Schnelligkeit,
Handeln in Strukturen geht es jetzt um situatives Tun, um Zeit
haben, Geduld, Behutsamkeit, Unvoreingenommensein, um Humor – auch
um Phasen des Schweigens.
Den jüngeren Älteren geht es meist um die Fortsetzung
des seit der Kindheit stattfindenden Erwerbs von Fähigkeiten
und Kompetenzen, von musikalischem Wissen und musikalischen Erfahrungen,
sie wollen „lebenslanges Lernen“ oder Wiederbeginn
beziehungsweise Neubeginn, „mehr Kultur in der dritten Lebenshälfte“.
Aufgesucht werden instrumentales Musizieren, besonders gern in
der Gruppe, Bewegung nach und mit Musik, Musikhören und Singen.
Mit der Elementaren Musikpädagogik kann man ohne Vorkenntnisse
Grundprinzipien der Musik begreifen und vor allem erleben, mit
der Rhythmik freie Bewegungen und eigenen Ausdruck finden oder
die eigene Ausdrucksfähigkeit erhalten, das Spüren und
Steuern des Körpers und seiner Beweglichkeit positiv beeinflussen.
Musik eignet sich besonders gut für eine „aktive Lebensgestaltung“,
Musik verhilft leicht zu Geselligkeit und Kommunikation, ermöglicht
Gespräche, Zuwendung, baut Beziehungen auf, öffnet den
Weg zu emotionaler, geistiger und psychologischer Unterstützung.
Musik steigert Lebensqualität, Lebenszufriedenheit und die
Kommunikation mit der Außenwelt. Untersuchungen zeigen gute
Erfolge beim Einsatz von Musik bei depressiven und zurückgezogen
lebenden Menschen.
Allerdings wollen hochalte Menschen meist keinen Unterricht mehr
haben, wollen nicht beschult, belehrt werden, wollen keine „Späterziehung“.
Im Alter werden meist die musikalischen Aktivitäten verfolgt,
die in Kontinuität mit dem früheren Leben stehen. Es
geht um Anwendung des Vertrauten, häufig um „Erinnerungs-
oder Biographiearbeit“. Musik bewirkt Erinnerung und Lebensrückblick: „Das
Leben klingen lassen“ (Klaus Leidecker). Lieder, die an Vergangenes
erinnern, schaffen emotionalen Zugang, Rückblick zu wichtigen
Lebenspunkten, Lebensabschnitten und Lebenseinschnitten, stellen
Gesprächsbereitschaft her.
Das kann der Bewältigung der Gegenwart dienen und in Krisensituationen
eine haltgebende Kontinuität der Lebensgeschichte erleben
lassen.
Theo Hartogh schreibt dazu in seinem Buch „Musikgeragogik“: „Musikgeragogik
darf nicht einer ‚Pädagogisierung des Alters‘ verfallen
und sich auf die (institutionelle) Bewältigung und Kompensation
von Defiziten und Beeinträchtigungen beschränken (z.B. ‚Gedächtnistraining
mit Musik‘). Ihr Aufgabenfeld ist der alte Mensch und sein
Bezug zur Musik. Daher ist dem alten Menschen nicht über Problemsichten
(Pflegebedürftigkeit, Krankheit, Behinderung, Defizite) zu
begegnen, sondern über dessen individuelle Kompetenzen und
Interessen. In dieser Perspektive sind Musizieren und Musikhören
keine Beschäftigungstherapie, sondern selbst bestimmtes sinnvolles
Tun, das das Recht auf Nicht-Musizieren einschließt.“ Im
Mittelpunkt steht der musizierende Mensch und nicht die Musik als
Lerninhalt. Kann also von einem Abschied vom Defizitmodell gesprochen
werden?
Zumindest kann der grundsätzlich nicht aufhaltbare Abbauprozess
verlangsamt werden. Selbstwertgefühl, Selbständigkeit,
Selbstbestimmung, Kontakt- und Erlebnisfähigkeit können
auch durch Musik länger bewahrt werden. „Anti-Aging“ nennen
es manche. Zumindest sollen Teilkompetenzen, Alltagskompetenzen
möglichst lange erhalten bleiben; angeboten wird beispielsweise „Gedächtnistraining“.
Und wenn im höchsten Alter auch freudiges Tun zur Anstrengung
wird und nur noch kurz ausgehalten werden kann: situativ angemessener
Einsatz von Musik kann Glücksmomente bringen, kleine, wohltuende
Lichtblicke.
Wolfhagen Sobirey, Mitarbeit Birte Hedden
Literatur:
Theo Hartogh: Musikgeragogik – ein bildungstheoretischer
Entwurf, Musikalische Altenbildung im Schnittfeld von Musikpädagogik
und Geragogik. Augsburg, Wißner 2005
Siehe auch unser Film zum Kongress des Deutschen
Musikrates „50 +“ unter: www.nmzmedia.de