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nmz-archiv
nmz 2008/02 | Seite 16-17
57. Jahrgang | Februar
Kulturpolitik
Jeki – Jedem Kind ein Instrument
Chronologie der Entwicklung einer bildungs- und gesellschaftspolitischen
Vision
Gedanken springen wie Flöhe von einem zum anderen, aber sie
beißen nicht jeden.
(George Bernard Shaw)
2001 entsteht, ausgehend von einem Pilotprojekt an der Rudolf-Steiner-Schule
Bochum-Langendreer, die Idee für das Projekt „Jedem
Kind ein Instrument“. Gemeinsames Ziel der Träger des
Projekts – der Zukunftsstiftung Bildung und der Musikschule
Bochum – ist es, jedem Bochumer Grundschulkind zu ermöglichen,
ein Instrument zu erlernen. Während der spielerischen musikalischen
Einführung im ersten Jahr können alle gängigen Instrumente
ausprobiert und kennengelernt werden; im zweiten Jahr findet in
Kleingruppen intensiver Unterricht an einem Instrument der Wahl
statt, das dem Kind leihweise für ein Jahr überlassen
wird. Die Musikschule Bochum bietet anschließend weiterführenden
Unterricht an. Mit dem Schuljahr 2003/04 startet das Projekt in
Bochum mit zehn Grundschulen; insgesamt hat Bochum etwa 70 Grund-
und Förderschulen. Jedes Jahr sollen zehn neue hinzukommen,
so dass nach sieben Jahren alle 70 Grund- und Förderschulen
einbezogen sind.
Asmus
J. Hintz, Direktor der Yamaha Academy Of Music, in einer
Gruppe von Kindern der musikalischen Früherziehung.
Foto: Yamaha
2002: Im April wird in Hamburg die Initiative EKM „ElternKindMusik – Förderung
der gesellschaftlichen Bildung durch Musik“ gegründet.
Die Zielsetzung der EKM geht über die des Bochumer Projekts
hinaus: Nicht nur die Förderung des Instrumentalspiels ab
dem siebten Lebensjahr, sondern der Zugang zu musikalischer Bildung
für jedes Kind ab der Geburt und ungeachtet seiner sozialen
Herkunft werden angestrebt. Als Gründer und Sprecher der EKM
fordert der Verfasser im Mai 2002 den Senat der Freien und Hansestadt
Hamburg auf, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass
Eltern erfahren und erleben können, wie Musik ihr Kind
bereits ab dem vierten Lebensmonat in seiner Entwicklung prägen
kann,
jedes Kind den Umgang mit Musik in Kinderkrippe, Kindergarten
und Vorschule als Bestandteil seines täglichen Lebens erfahren
kann und
jedes Kind ab dem siebten Lebensjahr bereits in der Grundschule
durch das Erlernen eines Musikinstrumentes seiner Wahl unter
anderem mit den Methoden des Klassenmusizierens emotionale
und praktische
Erfahrungen im Umgang mit Musik machen kann.
2002: Im September gründet der Landesmusikrat Hamburg sein „Bündnis
für Musik“. Der Landesmusikrat verfolgt die Strategie, „so
viel zu fordern, dass die Umsetzung schon schmerzt, aber noch möglich
erscheint und besser Etwas, aber dies an vielen Stellen, als Viel
an einer Stelle zu verlangen“. Deshalb und weil man dem weitreichenden
Antrag der EKM keine Erfolgsaussichten zugesteht, lehnt der Landesmusikrat
die Unterstützung der EKM ab.
2003: Am 7. Mai führt die Initiative der EKM zu dem einstimmigen
Beschluss der Hamburger Bürgerschaft, den von der Koalitionsregierung
eingebrachten, mit der EKM-Forderung weitgehend identischen Antrag
(s.o.) zu realisieren.
2004 lobt die „Stiftung 100 Jahre Yamaha“ in Kooperation
mit dem Deutschen Musikrat den „Inventio“ aus, den
bundesweit einzigartigen Preis für die Entwicklung transferfähiger
Konzepte für die musikalische Breitenbildung.
2005 geht der „Inventio“ an das Bochumer Projekt „Jedem
Kind ein Instrument“, das damit zum ersten Mal eine Auszeichnung
erhält. Das Projekt wird für seine besondere Breitenwirkung
und die beispielhaft gute Zusammenarbeit privater und öffentlicher
Partner ausgezeichnet.
2006: Am 20. Dezember berichtet Associated Press (AP), dass die
Kulturstiftung des Bundes das Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ mit
zehn Millionen Euro fördern wird.
2007: Am 24. April meldet das Hamburger Abendblatt zum Start
des Projekts „Jedem Kind ein Instrument“ in Hamburg-Marmstorf: „Es
klingt unglaublich, aber Ziel von ,Jedem Kind ein Instrument‘ ist
es, dass ,möglichst viele – im Idealfall alle – Grundschulkinder‘ in
der Schule ein Instrument ihrer Wahl lernen. Und damit dies klappt,
sollen Grundschullehrer mit Instrumentallehrern zusammenarbeiten
... Trägerin von ,Jedem Kind ein Instrument‘ in der
Hansestadt ist die Hochschule für Musik und Theater Hamburg.
Sie arbeitet zusammen mit der Staatlichen Jugendmusikschule.“
2007: Am 12. Oktober antwortet Elmar Lampson, der Präsident
der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, auf die Frage
des Hamburger Abendblattes zu dem Balanceakt zwischen Exzellenz
und Breitenbildung: „Wir haben das Ziel des einzigartigen
Projekts ,Jedem Kind ein Instrument‘ in unser Ausbildungskonzept
integriert. Die Vision wäre, dass jeder Hamburger Grundschüler
in der ersten und zweiten Klasse Instrumentalunterricht im Klassenverband
erhält. Genau für diesen Gruppenunterricht bilden wir
unsere Studenten aus. Das ist unsere Basisarbeit, die dank einer
großen Spende möglich ist.“ In derselben Ausgabe
des Hamburger Abendblatts befürchtet der Landesvorsitzende
des Arbeitskreises für Schulmusik, AfS, Udo Petersen hingegen,
die Musikoffensive des Senats könne möglicherweise eine „Luftnummer
der Vorwahlzeit“ sein. Der Kauf von 600 Instrumenten sei
ein Anfang, aber keine Garantie für das Gelingen des Projekts;
die meisten Grundschüler würden wegen des Lehrermangels
derzeit nicht einmal Musikunterricht erhalten, zudem mangele es
an qualifizierten Instrumentallehrern.
Am 11. Dezember 2007 berichtet das Hamburger Abendblatt: „In
der musikalischen Nachwuchsarbeit ist derzeit ein erfreulicher
Umbruch zu erleben ... Einige der wichtigsten Impulse werden dabei
erst durch die Unterstützung von Stiftungen und privaten Spendern
ermöglicht. Das zeigt sich auch am Beispiel der Initiative
,Jedem Kind ein Instrument‘, die aus einer Kooperation der
Hamburger Musikhochschule mit dem Unternehmerehepaar Horst und
Elke Dörner entstanden ist. Die Idee dazu stammt von Hochschulpräsident
Elmar Lampson: ‚Es ist dringend nötig, dass zur selbstverständlichen
Erfahrung von Schulkindern gehört, ein Instrument zu lernen.
Und zwar von jedem Kind und nicht nur von Kindern an Eliteschulen.
Das ist eine dringende Notwendigkeit und kein Luxus!’ Deshalb
hat Lampson das Projekt ‚Jedem Kind ein Instrument’,
das er aus Bochum kennt, in Hamburg auf den Weg gebracht und gemeinsam
mit Kollegen die dafür erforderlichen pädagogischen Konzepte
erarbeitet. Denn vor einer ganzen Klasse zu stehen und sein Instrument
zu präsentieren stellt einen Lehrer vor ganz andere Herausforderungen
als der vertraute Einzelunterricht.“
Der Stand heute
In weniger als zehn Jahren haben sich die bildungspolitische
Landschaft und die Haltung der Verantwortlichen für musikalische Bildung
in unserem Land deutlich verändert. Warnte noch im Jahr 2005
ein Bericht der Bundesregierung, das Opernpublikum sei „vom
Aussterben bedroht“ und für den (Rezipienten-)Nachwuchs
in der Klassik sehe es ziemlich düster aus, werden heutzutage
vielerorts Musikalisierungsoffensiven geplant und budgetiert.
Die Erfolge des Bochumer Projekts „Jedem Kind ein Instrument“ sowie
die Forderungen der EKM in Hamburg haben die politische Konsensbildung
für die Verwirklichung
der musikalischen Breitenbildung entscheidend beeinflusst.
Ungewohnte Situation
Unterrichtet ein Orchestermusiker oder Instrumentallehrer in
einer allgemein bildenden Schule, stellt sich die Frage: Wie gehe
ich
mit einer Gruppe um? Da fehlt es nicht an gutem Willen, sondern
an Technik. In dem Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ werden
die Lehrkräfte der Musikschule mit ungewohnten Situationen
konfrontiert. Sie sollen gemeinsam mit Grundschullehrkräften
vor Ort in den Grundschulen unterrichten, der Instrumentalunterricht
wird in Gruppen mit drei bis sieben Kindern durchgeführt,
es wird Ensembles geben, die ausschließlich aus Anfängern
und den ungewöhnlichsten Instrumentenkombinationen bestehen.
70 Prozent der unterrichteten Kinder gehören nicht zur klassischen
Klientel der Musikschulen. Lehrkräfte der Grund- und Musikschulen
sowie private Musiklehrer müssen auf die speziellen Erfordernisse
eines solchen Unterrichts vorbereitet werden. Es gilt, dafür
zu sorgen, dass
Musikschul- und Grundschullehrkräfte im ersten Jahr kooperieren
und Elementare Musikpädagogik mit dem Schwerpunkt Instrumenteninformation
unterrichten können.
die Methodik und Didaktik des ersten
Unterrichtsjahres im Hinblick auf den Erwerb grundlegender Kompetenzen
im Bereich der elementaren
Musikpädagogik vermittelt werden kann und
die Instrumentallehrkräfte qualifiziert sind, auch instrumentalen
Gruppenunterricht mit drei bis sieben Kindern durchführen
zu können.
Fragen der Praktiker
Wird der Mangel an methodischer Kompetenz im Bereich des Instrumentalen
Gruppenunterrichts (IGU) zum Stolperstein einer musikpädagogischen
und gesellschaftspolitischen Vision? Während die Politiker
visionär in die Zukunft blicken, befassen sich die Praktiker
mit elementaren Fragen:
Wie und von wem werden die Zielsetzungen der Bildungs- und
Kulturbehörde
koordiniert?
Woher kommen die benötigten Lehrkräfte für die Realisierung
des JEKI-Projekts in Hamburg? Mehr als 1.000 Lehrkräfte im
Fach Musik werden gebraucht, um zwei Jahrgänge à 560
Grundschulklassen zu unterrichten.
Nicht alle Kinder bringen die gleichen Voraussetzungen für
eine Ausbildung auf einem Musikinstrument mit. Wie geht man
mit diesen Kindern um?
Die letzte Frage lässt aufmerken. Hat man je eine ähnliche
Besorgnis in Bezug auf den Unterricht in Mathematik, Naturwissenschaften,
Sport oder Sprachen vernommen? Im Gegensatz zum Instrumentalunterricht
wird hier nicht erörtert, ob die Schüler auch die gleichen
Voraussetzungen mitbringen oder besser im Einzel- oder im Gruppenunterricht
lernen. Sind vielleicht die Lehrkräfte der nicht musikalischen
Fächer besser ausgebildet für das Unterrichten heterogener
Gruppen?
Thomas Grosse hat sich in seiner 2006 herausgegebenen Untersuchung „Instrumentaler
Gruppenunterricht an Musikschulen“ differenziert mit der
derzeitigen Situation an Musikschulen befasst. Er kommt zu dem
Fazit, dass viele Lehrkräfte offenbar nicht bereit scheinen,
sich mit dem IGU als Unterrichtsform zu beschäftigen, obwohl
diese an vielen Musikschulen etabliert ist und von Eltern wie Schülern überwiegend
positiv bewertet wird. Gruppenunterricht bedeutet für viele
Lehrkräfte eine Beeinträchtigung ihres künstlerischen
Selbstbildes, widerspricht ihrer Vorstellung der Meisterlehre;
die mit dieser Unterrichtsform verbundene Mehrbelastung in Kombination
mit einer pä-dagogisch unzureichenden Ausbildung verstärkt
die Ablehnung. In offiziellen Gesprächen äußert
man sich zwar meist positiv, in der Praxis jedoch trifft man auf
skeptische Einstellungen bis hin zur Verweigerungshaltung.
Defizite
Ohne Zielorientierung und Planung kann nur situativ reagiert
und die Qualität der Leistung von Lehrern und Lernenden nicht
angemessen bewertet werden. Im landläufig anzutreffenden Instrumentalunterricht
sind klare Ziele und deren planvolle Verfolgung eher selten. Hingegen
ist die Haltung, aus der jeweiligen Situation heraus zu reagieren
und daraus das Beste zu machen, weit verbreitet. Die Ausbildung
der Musiklehrer vermittelt nicht oder nur unzureichend die für
den IGU notwendigen methodischen Kompetenzen. Dass wir musikpädagogisch
gebildete Lehrkräfte mit ausgewiesenen methodischen Kompetenzen
für die frühkindliche Musikalisierung, den IGU mit Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen, dringend brauchen, ist keine neue
Erkenntnis, aber gehandelt wurde bislang nicht. Händeringend
sucht derzeit die Projektorganisation von „Jedem Kind ein
Instrument“ IGU-Lehrkräfte, weil das Vorhaben ohne diese
Unterrichtsform nicht durchführbar ist: „Alle Hochschulen
für Musik, Akademien und Konservatorien, Universitäten,
Bundes- und Landesakademien, Fachschulen für Musik und sonstige
geeignete Fortbildungsinstitutionen sind gefordert, inhaltliche
und didaktische Konzepte für diese Herausforderungen zu entwickeln
und diese als Fortbildungsmodule anzubieten.“
Fakt ist: Die zukünftigen Musiklehrer werden in ihrer Ausbildung
an den Hochschulen noch immer nicht auf Gruppenunterricht vorbereitet,
obwohl das Modell an Musikschulen zunehmend genutzt wird. Insbesondere
an Ganztagsschulen werden immer öfter in Kooperation mit der
lokalen Musikschule neue Angebote mit ganzen Bläser- oder
Streicherklassen initiiert. An vielen Orten wird der IGU eingeführt,
oft als Sparmaßnahme, mitunter gegen den Willen und ohne
Ausbildung der Lehrkräfte. Diese Sachlage verstellt den Blick
auf die Tatsache, dass Gruppenunterricht einzigartige pädagogische
und musikalische Chancen bietet. Der Verfasser ist der Meinung,
dass der IGU die allgemeinverbindliche „pädagogische
Normalsituation“ darstellen sollte und der Einzelunterricht
vorrangig für die Betreuung von Minder- oder Spitzenleistungen
in Betracht kommt. Als eine mögliche Alternative zum IGU hat
sich der Kombiunterricht bewährt, der die gruppendynamischen
Aspekte des IGU mit der individuell gestalteten Lernsituation des
Einzelunterrichts verbindet.
Weshalb haben die berufsausbildenden Institutionen in den vergangenen
30 Jahren in diesem Bereich nicht geforscht, Konzepte entwickelt,
in der Praxis getestet und optimiert, Studierende aus- und fortgebildet?
Heute, da endlich die historische Chance besteht, das Instrumentalspiel
zu demokratisieren und musikalische Bildung in die Breite der Gesellschaft
zu tragen, fehlen kompetente Lehrkräfte. Zu fragen wäre
also:
Weshalb haben die Hochschulen die Doppelaufgabe der Ausbildung
für Spitzen- und Breitenarbeit weitgehend ignoriert?
Welche und wessen Interessen haben die Verantwortlichen für
die Ausbildung musikpädagogischer Fachkräfte in den
vergangenen Jahrzehnten verfolgt?
Welchem bildungs- und gesellschaftspolitischen Auftrag fühlten
und fühlen sie sich verpflichtet?
Was haben die zuständigen Aufsichtsorgane unternommen?
Warum ist die Bereitschaft zur beruflichen Fort- und Weiterbildung
bei Musikern so gering ausgeprägt?
Warum sind viele Fortbildungsveranstaltungen für am IGU interessierte
Lehrkräfte so wenig konkret und unverbindlich in Bezug auf
methodische Anleitung und handwerkliches Training?
Warum haben die Hochschulen es unterlassen, das Dreiklassensystem „Solist – Orchestermusiker – Instrumentallehrer“ aufzuheben
und für die Anerkennung der Gleichwertigkeit dieser Tätigkeiten
zu sorgen?
Nach Aussage des VdM und des DMR warten derzeit 100.000 Kinder
auf Instrumentalunterricht. In welchem Umfang könnte der IGU
dazu beitragen, Wartelisten an Musikschulen abzubauen?
Thomas Grosse: Instrumentaler Gruppenunterricht an Musikschulen.
Eine Untersuchung am Beispiel des Landes Niedersachsen, Augsburg
2006
Die unterschiedlichen Auffassungen über die Möglichkeiten
und Grenzen von Einzel- und Gruppenunterricht werden am 14. März
2008 auf der Frankfurter Musikmesse im Rahmen des Forums Musikpädagogik
erörtert. Was sonst nur hinter vorgehaltener Hand gesagt wird,
soll hier unter Mitwirkung von Repräsentanten unterschiedlicher
Denk- und Fachrichtungen und Beteiligung des Publikums zur Sprache
kommen. Hören Sie die Meinung von Experten aus den Bereichen
Musikschule, Schulmusik, Hochschule sowie die Repräsentanten
der Verbände VdM und VDS. Eingeladen ist auch Elmar Lampson,
der in Hamburg mit seinen Kollegen die erforderlichen pädagogischen
Konzepte zur Realisierung des Projektes „Jedem Kind ein Instrument“ erarbeitet
hat.
Zusätzliche Informationen, unter anderem über Ihren
kostenfreien Zugang zum Veranstaltungsort und zum Besuch der
Frankfurter Musikmesse
erhalten Sie unter: www.nmz.de/yamaha