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nmz-archiv
nmz 2008/02 | Seite 5
57. Jahrgang | Februar
Magazin
Die Freiheit der Perspektiven
Klaus Bernbacher erinnert an Hans Otte
Über die „Freiheit der Perspektiven“, ein besonderes
Leitmotiv von Hans Otte, sprach der Komponist und Freund Reinhard
Schimmelpfennig auf einer katholisch wie vom Zen-Buddhismus geprägten
Trauerfeier in Bremen. Als langjähriger Kollege, Nachfolger
bei Radio Bremen und Freund möchte ich ein paar persönliche
Erinnerungen hinzufügen.
Die erste Otte-Partitur – wir kannten uns noch nicht persönlich – habe
ich als Mitglied der Jury für das Weltmusikfest in Köln
Ende der 50er-Jahre gesehen. Kurze Zeit später gründeten
wir die beiden Musikfeste „pro musica nova“ in Bremen
und die „Tage der neuen Musik“ in Hannover. Beide hatten
wir zunächst Schwierigkeiten zu überwinden, denn man
bekämpfte uns wegen der Neuerungen. Das führte uns zusammen – gemeinsam
waren wir stärker. Abgesehen von zahlreichen Aufführungen
seiner Werke im Verlaufe des 40-jährigen Bestehens der Hannoverschen
Musiktage spielte Hans Otte 1983 nach der erfolgreichen Uraufführung
1982 in Metz die deutsche Erstaufführung seines „Buch
der Klänge“ in Hannover.
Anfang der 60er-Jahre verließ Hermann Scherchen die Leitung
der Nordwestdeutschen Philharmonie in Herford, mit der er auch
die symphonischen Orchesterproduktionen für Radio Bremen dirigierte,
das eigene Rundfunkorchester war bereits 1958 aufgelöst worden.
1962 übertrug Otte, damals Hauptabteilungsleiter beim Sender,
mir diese Aufgabe, die ich 34 Jahre ausübte.
1969 holte er mich als seinen Stellvertreter an den Bremer Sender.
Gemeinsam konnten wir in diesen Jahren das Programm vergrößern
und entwickeln. Bremen hatte unter anderem zeitweise die meiste
Sendezeit für Neue Musik in der ARD.
Das Medium Rundfunk hat Otte schon früh fasziniert, und es
galt für uns als praktische Musiker, über die Produktionsmittel
und -möglichkeiten zu verfügen. Wir waren damals in Bremen
ein Autorensender, und zwar auf allen Gebieten.
Otte war für uns ein „inspirierter Inspirator“.
Es galt neue Hörerlebnisse zu vermitteln:
Experimente, welche durchaus nicht immer glücken mussten!
eine umfassende Darstellung der Weltmusik – so wie die
ganze Welt klingt.
das Recht der Minderheiten, das Medium auch künstlerisch
zu begreifen.
Bürokratie, Amtsanmaßung und Ignoranz waren ihnen stets
verhasst, persönlicher Mut und Humor oft bewiesen. Neben der
Musik war er dem Theater, der Literatur und der Bildenden Kunst
verbunden.
Über wichtige Akzente Ottes wie zum Beispiel der Blick nach
Amerika wird an anderer Stelle geschrieben. Er drängte mich
1982, noch vor der krankheitsbedingten Beendigung seiner Tätigkeit
beim Sender, Schönbergs „Gurre-Lieder“ in der
Originalbesetzung in Bremen aufzuführen, was exemplarisch
gelang.In dieser Zeit vollzog sich im öffentlich-rechtlichen
Rundfunk eine tief einschneidende Wandlung: Bedingt durch die vermeintliche
Konkurrenz der privaten Anbieter gewann der Ruf nach höheren
Einschaltquoten als Programmkriterium immer mehr an Bedeutung.
Dieser beginnende kulturpolitische Kampf war nicht mehr Ottes Welt.
Im Dezember 1986 haben Solf Schaefer und ich die „Bremer
Resolution“ zur Situation der
Neuen Musik in den Hörfunkprogrammen der ARD initiiert, die
von 18 namhaften Komponisten formuliert wurde. Bremen wurde als
ein kulturpolitisches Zentrum der Neuen Musik für diese Proklamation
ausgewählt.
Der gesetzliche Kulturauftrag des Rundfunks geriet aufgrund populistischer
Tendenzen in Gefahr – das muss bis heute deutlich bei jeder
Gelegenheit gesagt werden.
Für Otte untypisch war seine Bereitschaft im Präsidium
des Deutschen Musikrates vier Jahre mitzuarbeiten. Wir waren beide
mit Günter Bialas 1969 in Stuttgart neu in das Gremium gewählt
worden.
1987 erhielt Otte in Bremen die selten verliehene Senatsmedaille
für Kunst und Wissenschaft – auch das sollte nicht vergessen
werden. Später richtete das Neue Museum Weserburg einen Klangraum
für Hans Otte ein.
Mitte der 70er-Jahre begannen ernsthafte gesundheitliche Krisen.
Nur wenige kennen heute noch den gesunden und vitalen jungen Mann,
der den Lebensfreuden zugetan war.
Otte musste seine Lebensabläufe radikal ändern. Asien
und seine Kultur traten nun in sein Blickfeld. Zusammen mit seiner
Frau Ute, die ihn bis zuletzt liebevoll pflegte, fand er im Zen-Buddhismus
unter anderem durch Reisen nach Japan Lebenshilfe, Ruhe und Erfüllung.
Er konzentrierte sich nun auf das für ihn jetzt Wesentliche,
nämlich komponieren und Klavier spielen. Er lebte in Bremen
zurückgezogen und ging auf Distanz zum allgemeinen Musikbetrieb.
In seiner Jugend gehörte er zu den so genannten „Hochbegabten“.
Zeit für jüngere Menschen zu haben, war für ihn
stets selbstverständlich.
Als Komponist der Avantgarde hinterlässt er ein umfangreiches
Gesamtwerk. Jedoch erkannte er schon früh, dass die Entwicklung
der Neuen Musik Gefahr läuft, in der heutigen Zeit in einer
Sackgasse zu enden. Dem Wettkampf vieler Komponisten, immer kompliziertere
Stücke zu konstruieren und gleichzeitig diese Ästhetik
ideologisch zu doktrinieren, setzte er die „Freiheit der
Perspektiven“ entgegen.
Töne, Intervalle und Klänge neu zu erfassen und zu entdecken,
gelang ihm deshalb meisterlich im „Buch der Klänge“.
Drei Stücke aus dem wichtigen Werk, von ihm selbst in der
berühmten Aufnahme eingespielt, konnte die Trauergemeinde
als Abschied vernehmen. Wir können dankbar bekunden: Hans
Otte hat sich um die Musik verdient gemacht.