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nmz-archiv
nmz 2008/02 | Seite 4-5
57. Jahrgang | Februar
Magazin
Bewegung aus der Ruhe bringen
Bildnis eines Metamusikers: Zum Tode von Hans Otte
Der Tod Karlheinz Stockhausens hat noch einmal den Blick – staunend,
bewundernd, selbst bestürzt – auf einen Künstlertypus
gelenkt, der exemplarisch, ja epochal für den demiurgischen
Anspruch stand: der egozentrisch-monoman bis in den Solipsismus
hinein einzig dem eigenen Werk lebte. Wer Stockhausen seit den
sechziger Jahren kannte und regelmäßig erlebte, wird
in Erinnerung haben, wie relativ linear in dieser Hinsicht seine
Entwicklung ver-lief. Seit den achtziger Jahren jedenfalls hat
sich Stockhausen kaum mehr ernsthaft für andere Musik interessiert
als die ausschließlich eigene; an der der Zeitgenossen, erst
recht der Jüngeren, war ihm immer weniger gelegen. Solcherart
Rigidität ist keineswegs gering zu schätzen, gehört
zum Pathos des autonomen romantischen Originalgenies, ist darin
zumindest smarter Kommunikationsgefälligkeit vorzuziehen.
Zumal die historischen Vorbilder immerhin Richard Wagner und Alexander
Skrjabin heißen.
Hans
Otte: „Ein wahrer Künstler arbeitet nicht, er
liebt“. Foto: Silvia Otte
Den Gegentypus vertraten etwa Franz Liszt oder Ferruccio Busoni – große
Komponisten gewiss ebenfalls, jedoch entschieden großzügiger
in ihrem Wirken: als charismatische Interpreten nicht nur in eigener
Sache, als Lehrer, Vermittler, enthusiastische Initiatoren und übergreifende Ästhetiker.
Sie agierten als Katalysatoren der Künste, weniger als Monade
ihrer selbst.
Erinnert man sich nun an Hans Otte, so steht er einem denn auch
in mehrfacher Funktion vor Augen, nicht zuletzt als Erscheinung.
Ein stets gelassen zugewandter, freundlicher Blick kam einem aus
einem lange erstaunlich alterslos wirkenden Gesicht entgegen, im
sanft geheimnisvollen Lächeln seinem großen Wahlverwandten
John Cage mitunter durchaus ähnlich. Otte war ein Kommunikator
und Multiplikator, der seit den fünfziger Jahren erheblichen
Einfluss auf die Entwicklung der Künste genommen hat. Und
dies gerade weil ihm die Züge des gewieft technokratischen
Kulturmanagers fremd waren: ein „Macher“ ohne alle
Machthaber-Allüre. Denn zuallererst war und blieb er Musiker,
Komponist und Pianist. Doch schon die Wahl der Lehrer des 1926
in Plauen geborenen Otte war symptomatisch. Klavier bei Walter
Gieseking, Komposition bei Paul Hindemith in Amerika, Orgel bei
Fernando Germani in Rom. Galt Gieseking, Spezialist nicht zuletzt
für Debussy und Ravel, kaum als deutscher „Seher“-Pianist
a la Elly Ney oder Wilhelm Kempff, so vertrat der späte Hindemith
die Rückwendung zur Tonalität – und in der Sicht
der Frankfurter Helmut-Walcha-Orhodoxie war Germanis Bach-Spiel
grauslicher Romantizismus. Otte taugte nicht im mindesten zu deutscher
Systemgläubigkeit, weder im Nachleben der expressionistischen
Tendenzen der Schönberg-Schule noch der Darmstädter Serialismus-Doktrinen.
Als einer der ersten hat er sich von deren rigider Lehre abgewandt:
nur via Atonalität, Reihentechnik und Elektronik ließe
sich authentische „Neue“ Musik komponieren; alles andere
sei nichts als dumpfe Reaktion. Dabei gehörte Otte durchaus
zur radikalen Avantgarde, wurden doch seine Arbeiten der fünfziger
und sechziger Jahre regelmäßig auf deren etablierten
Foren (Donaueschingen) kreiert. Aber angeregt schon früh durch
Cage und etwa gleichzeitig mit Mauricio Kagel gelangte er zu zwei
nicht
unbedingt parallelen, aber doch sich vom Konsens entfernenden Strategien – entsprechend
Cages Ideal „Lasst Klänge Klänge sein“ und
Kagels Idee eines „Komponierens mit nichtklingenden Materialien“.
Tönende Statik und Vernetzung der Künste bestimmten zunehmend
seine ästhetischen Prozesse, die immer weiter weg führten
von der Diversifikation des tönenden Materials und stattdessen
immer mehr visuelle und sprachlich-phonetische Elemente miteinbezog.
Audio- und Video-Installationen, Hörspiele, Textraster, Theater
und Film, Performance traten gleichberechtigt, ja dominant zum „traditionellen“ Komponieren.
Was ihn von ähnlichen Tendenzen bei Kagel, Schnebel und selbst
Stockhausen unterschied, war die Distanz zu Surrealismus und Dadaismus,
die bisweilen fast asketische Verweigerung psychologisch-realistischer
Ursache-Wirkung-Relationen. Auch darin blieb Cage sein großes
Vorbild. Einen enormen Überblick bot 1979 die große
Ausstellung „Visuelle Musik Klänge Texte Bilder Ereignisse
Theater“ in der Kunsthalle Baden-Baden.
Zwei Jahrzehnte zuvor hatte sich allerdings noch etwas anderes
ergeben: Otte wurde nach einem Rom-Aufenthalt zum damals jüngsten
Musikhaupt- u uabteilungsleiter der ARD ernannt, bei Radio Bremen:
von der „ewigen Stadt“ in die hanseatische „Provinz“.
Der kleine Stadtstaat-Sender hätte womöglich einen karierristisch
ehrgeizigeren Technokraten weniger gereizt. Otte gründete
das Festival „pro musica nova“ und sah die Vorteile
im „Mangel“: Große Apparate wie Orchester oder
Chor mussten nicht beschäftigt werden, die Administration
blieb überschaubar. Auf die Ideen kam es an, weniger auf die
opulente Repräsentation.
Bremen freilich schulte den überseeischen Blick: An die Stelle
der vielfältigen Traditionsbezüge der europäischen
Moderne und selbst Avantgarde eröffneten sich ihm asiatische
wie amerikanische Räume, sogar in ihren Zusammenhängen.
Sprituelle, etwa buddhistische Welten und die Gewaltlosigkeits-Anarchie
Cages berührten, durchdrangen sich. Otte setzte auf eine alternative
Avantgarde, hielt auf Abstand zu den Präferenzen in Donau-eschingen,
Darmstadt, Köln oder im großmächtigen Hamburg.
Da ergab sich eine Art Parallele zu der Dauerrivalität zwischen
Wien und Graz: Hier die glanzvolle Tradition, dort das Experiment.
In der Ära Hübner war Bremen zur Theater-Metropole sui
generis geworden, bis hin zur liebevollen Titelvariante, die in
den siebziger Jahren „Theater heute“ zu „Bremen
heute“ mutieren ließ.
Otte holte vor allem die Amerikaner an die Weser: Cage, La Monte
Young, Riley, Reich, Joan La Barbara, Meredith Monk, die Fluxus-Künstler
Alan Kaprow und Dick Higgins, auch Nam June Paik und Wolf Vostell.
Hinzu kamen Literaten wie Helmut Heißenbüttel, Gerhard
Rühm, Hans G. Helms und Ferdinand Kriwet. Ganz andere Raum-Zeit-Klang-Sprach-Bild
Konzepte waren da zu erleben. Die europäischen Komponisten
hat er darüber nicht vernachlässigt, im Gegenteil epochale
Uraufführungen ermöglicht: entscheidende Orgel-Innovationen
wie Ligetis „Volumina“ oder Kagels „Improvisation
ajoutée“, Schnebels „Choralvorspiele“.
Kagels „Sur scène“ wurde 1962 kreiert, ebenso „Eine
Lektüre von Orwell“, „Tremens“, „Der
Eid des Hippokrates“ und „Klangwehr“, Stockhausens
vierteilige „Herbstmusik“ ereignete sich 1974. Manche
Novitäten waren so nur in Bremen zu erleben. Wer wissen wollte,
was die avancierte Kunst an- und umtrieb, musste an die Weser fahren.
Dabei hatte Otte nicht das mindeste vom Guru oder New-Age-Apostel.
Grenzüberschreitung und ruhige Sachlichkeit gehörten
bei ihm zusammen. Analog hatte er schließlich gleich von
Anfang an parallel das Festival „pro music antiqua“ initiiert,
wo sogar schon 1961 der junge Nikolaus Harnoncourt einen seiner
ersten größeren Auftritte hatte. Dass Otte sich bei
seinem Sender in eigener Sache als Komponist zurückhielt,
verstand sich. 1984 gab er die Position, weithin mit ihm identisch,
auf: kein Wunder, dass die Impulse rasch erloschen.
Schon bei der entschieden multimedialen Baden-Badener Präsentation
1979 wurde Otte klar, dass das Klavier sein Instrument blieb. So
schrieb er „Das Buch der Klänge“, spielte im November
1982 bei den Metzer „Rencontres“ die über einstündige
Uraufführung. Es ist wahrlich Pianistenmusik, von Klang, Mechanik,
aber auch Tradition des Instruments geprägt: spirituell-statisch-kinetische
(kein Widerspruch). Exerzitien, hauptsächlich tonal, figurativ,
eher antiexpressiv und -dynamisch, im Grundduktus fast freundlich.
Mit Meditationsmusik oder Minimalismus wäre das Werk indes
falsch etikettiert, viel zu stark ist dafür die Lust an Klang
und Bewegung spürbar: ein Glasperlenspiel voll verhaltener
Leidenschaft. Asiatisch-amerikanische Ingredienzen lassen sich
natürlich heraushören, nicht minder aber die motorischen
Subtilitäten, „künstlichen Paradiese“ Debussys
und Ravels. Ähnlich betörend, fast noch entrückter,
tönt sein „Stundenbuch“ (1991–98): Simplizität
ohne jede plump reaktionäre Regression.