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nmz-archiv
nmz 2008/02 | Seite 8-9
57. Jahrgang | Februar
Magazin
Der Künstler als transzendentaler Samenspender
Der Komponist Karlheinz Stockhausen ist tot · Von Reinhard
Schulz
Im Grunde war er immer schon etwas weg von uns. Zumindest seit
den 70er- Jahren, als er Kontakt ins All aufnahm und den Sirius
mit seinen geheimnisvollen musikalischen Energieströmen als
seine zweite Heimat entdeckte. Auf dem Pfade von dort zu unserer
Erde tun sich wundersame Dinge. Die Sicht auf Welt und Menschen
ist eine andere. Spirituelle Kraft legt sich über sie. Es
ist eine Kraft, die immer schon das Wirken von Karlheinz Stockhausen
prägte. Und er gab sie weiter an alle, die sich dafür,
die sich für seine Musik interessierten. Der Rest des Planeten,
so Stockhausen selbst, war ihm egal.
Karlheinz
Stockhausen nach der Uraufführung seiner „Lichter – Wasser“-Komposition
1999 in Donaueschingen entspannt beim Fürstenempfang
zwischen seinen Musen Suzanne Stephens und Kathinka Pasveer.
Foto: Charlotte Oswald
Und es waren viele, die sich von ihm anregen ließen. Das
ging hin bis zur Popmusik. Die Beatles nahmen ihn als einzigen
Musiker der Moderne in ihre Ahnengalerie der großen Menschen,
der „einsamen Herzen“ auf, Stockhausen fand Eingang
in Kreise von New Age wie in alle Bereiche, die Klang elektronisch
modifizierten. Das lag vor allem daran, dass Stockhausen eine geradezu
visionäre Sicht auf alle Möglichkeiten klanglicher Erweiterung
besaß. Und mit Besessenheit stürzte er sich auf sie,
lotete sie aus. Darin ging er wohl allen voran, nicht unbedingt
mit differenzierter Sensibilität dem Klang gegenüber,
nicht mit der Intensität einer politischen Botschaft, nicht
im fundamentalen Eindringen in die philosophischen Grundlagen der
Musik, die er seinen Weggefährten wie Boulez, Nono oder Cage überließ.
Aber bei der Witterung der utopischen Potenzen alles Klingens stand
er fast immer an erster Stelle. Alle neuen Erkenntnisse und Erfahrungen
regten ihn an, und unter seinen Händen entstanden immer wieder
Arbeiten, die als Schlüsselwerke der Moderne gelten. Der Begriff
der Befruchtung, für Stockhausen zentraler schöpferischer
Impuls, begleitete sein ganzes Komponieren: Der Künstler als
Samenspender, als Übermittler des göttlichen Odems, der
neues Leben gebiert. Seine Werke sind nicht nur mehr oder weniger
in sich geschlossene Stücke, sie sind immer auch Ausrufezeichen
und Fragezeichen zugleich: Das sind die neuen, perspektivöffnenden
Mittel, wo sind ihre Möglichkeiten, wo sind Grenzen.
Das begann schon in den aufbruchs-intensiven 50er-Jahren. Die
seriellen Techniken wurden diskutiert, der Ton wurde aufgespalten
in seine
Parameter, und Stockhausens Kompositionen, etwa die Klavierstücke
oder der Zyklus für einen Schlagzeuger, prüften sogleich
jedes neue Theorem – unter anderem auch die von Schönberg
am Ende seine Harmonielehre geäußerte Utopie der Klangfarbenmelodie.
Die Elektronik kam auf und Stockhausen prüfte in seinen Studien
sogleich die Grundmaterialien wie das weiße Rauschen und
den Sinuston. Und in seinem ersten vollgültigen elektronischen
Werk, im „Gesang der Jünglinge“, stellte er zugleich
sofort die Frage nach inhaltästhetischen, nach spirituellen
Möglichkeiten der neuen Techniken. Denn der „Gesang
der Jünglinge“, das wurde in der Aufbruchseuphorie häufig
völlig übersehen, hat fraglos Züge eines geistlichen
Werks. Man debattierte das offene Werk, das „Klavierstück
XI“ (auch der Zyklus) lieferte ein Grundmodell, um das sich
Boulez in seiner „3. Klaviersonate“ ringend und kaum
Schluss findend bemühte. Schon früh erkannte Stockhausen
die Kälte des rein elektronischen Klangs, selbst wenn er Naturklänge
in sein Material integrierte. Seine „Kontakte“ für
elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug wiesen auf, wie
lebendiges Musizieren mit Elektronik zu verbinden sei. Zugleich
findet sich in ihm eine kurze Passage, die fast als Wiedererkennungs-Trailer
für die seriellen und elektronischen Debatten über neue
musikalische Zeitauffassungen zu verstehen wäre: Ein Ton wird
kurvenartig in die Tiefe geführt, schließlich bilden
sich aus den Schwingungsfrequenzen einzeln wahrnehmbare Schläge,
die Tonhöhe also kippt qualitativ um zur Impulsfolge. Der
in neuer Wesenhaftigkeit entdeckte Parameter des Klangraums wurde
in keinem Werk dieser Zeit so gründlich und akribisch dargestellt
wie in Stockhausens Orchesterwerk „Gruppen“ für
drei Orchester aus den Jahren 1955/57. Alles also, was in dieser
aufbruchsintensiven Zeit von den jungen und durchbruchshungrigen
Komponisten über die Natur des Klingens, über serielle
Struktur oder über musikalische Werkästhetik theoretisch zur
Debatte gestellt wurde, fand sogleich Widerhall in einer exemplarischen
Komposition Stockhausens. Seine Arbeiten
hatten immer auch den Charakter einer Versuchsanordnung und konsequent
forderte er denn auch neue Aufführungsräume für
die zeitgenössische Musik, da die herkömmlichen Konzertsäle
den akustischen Anforderungen immer weniger genügen konnten.
Der
Klangregisseur: Karlheinz Stockhausen
bei den Salzburger Festspielen 1995 in der Kollegienkirche,
wo seine „Hymnen“ aufgeführt<
wurden. Foto: Charlotte Oswald
Das setzte sich dann auch in den 60ern fort, als die Heftigkeit
der Auseinandersetzungen abnahm und jeder Komponist, so auch Stockhausen,
einen individuellen Weg suchte. Wieder war es seine Hellhörigkeit,
die Entwicklungen vorausahnte, auch Entwicklungen, die nur wenig
mit dem seriellen Fortschrittsgeist zu tun hatten. Man mag seine
Komposition „Hymnen“ von 1967 als Vorwegnahme einer
später als Weltmusik bezeichneten Richtung sehen, das Vokalwerk „Stimmung“ von
1969 als Ahnung künftiger Spektralmusik und anderer mikrotonaler
Obertontechniken. Das Stück „Mantra“ für
zwei Klaviere und Elektronik verlangte direkte Klangumwandlung
und wurde zum Auslöser der Gründung des Experimentalstudios
in Freiburg. Und Arbeiten wie „Aus den sieben Tagen“ (1968)
und andere exponierte Modelle freier, spiritueller Improvisation.
Die Komposition „Inori, Anbetungen“ von 1974 bildete
einen Abschlusspunkt dieser meditativen Annäherung an den
Klang. Mit dieser Wendung kappte Stockhausen die Kontakte zu seinen
vormaligen seriellen Weggenossen, es war ein Bruch, der ihn mehr
und mehr isolierte und der auch den kritischen Stimmen gegenüber
seinem Werk fortlaufend Nahrung gab. Stockhausen war, so wurde
immer wieder geäußert, dem Lager der materialen Fortschrittsästhetik
verloren gegangen. Man nahm scheinbar reaktionäre Tendenzen
in der Mystik seiner Entwürfe (die unter anderem eine Verschmelzung
der Weltreligionen intendierte) wahr und Stockhausens Äußerungen,
seine inhaltlichen Vorwürfe, aber auch sein Habitus des mit
höheren Mächten verbundenen Individualgenies trieben
seine Person ins Abseits. Freilich nahm man sein Wirken auch forthin
mit einer Mischung aus Be- und Verwunderung zur Kenntnis. Nicht
gesehen wurde, dass die Selbst-Mystifikation für Stockhausen
gerade der Hebel war, Musik auf stets neue, herausfordernde Art
zu denken.
In dieser Situation reifte denn der Entschluss zu einem Großwerk,
das dann seine schöpferischen Kräfte mehr als ein Vierteljahrhundert
in Beschlag nehmen sollte und sie letztlich auch vollends verzehrte.
Es war der Opernzyklus „Licht“. „Licht“ sollte
der Ring des 20. Jahrhunderts werden: Ein kosmisches Spiel, Vereinigung
der Glaubensgrundsätze der Weltreligionen, ein Spiel über
den Kreislauf des Daseins, das sich in der Runde der sieben Tage,
der Woche spiegelt, ein Widerstreit von Prinzipien, der sich in
den drei Protagonisten des ganzen Zyklus’, nämlich Eva,
Michael und Luzifer niederschlägt. Es ist ein universales
Kräfteparallelogramm dreier existenzieller Seins- oder Energieformen,
die sich keineswegs in positive oder negative Aspekte trennen lassen
(Luzifer etwa steht für reine Vergeistigung, Michael hingegen
verkörpert das Prinzip des materiellen Schaffens, den Gehorsam
gegenüber dem Prozess, er ist es, der letztlich Eva für
sich gewinnt). Aus den sämtlichen Möglichkeiten der Gruppierung
(drei Mal eine Person, drei Konfrontationen zweier Personen, ein
Mal drei Personen) ergibt sich die Zahl sieben, damit die Tage
der Woche (Eva = Montag, Michael = Donnerstag, Luzifer = Samstag,
Eva + Luzifer = Freitag, Luzifer + Michael = Dienstag, Eva + Michael
= Sonntag, Eva + Michael + Luzifer = Mittwoch).
Das verlangte zunächst eine groß angelegte Disposition
des musikalischen Materials. Dazu entwickelte Stockhausen die Komposition
mit so genannten Formeln, die hier in einer Superformel zusammengefasst
sind. In der Formel ist das Reihendenken von Schönberg sowie
das serielle Denken (das auch Rhythmen, Dynamik und weitere Parameter
in Zahlenreihen darzustellen versucht) zusammengedacht. Auch die
Idee des Wagner’schen Leitmotivs und andere musikgeschichtliche
Ansätze zur Strukturierung des musikalischen Materials (etwa
das Akkorddenken von Skrjabin, aber auch schon die rhythmisch-melodischen
Denkformen in der isorhythmischen Motette des 14. Jahrhunderts)
sind im Ansatz der Formel aufgehoben. Die Superformel ist zu verstehen
als Integral aller motivischen, melodischen, rhythmischen oder
auch klangfarblichen Elemente des ganzen Opernzyklus, der insgesamt
eine Länge von etwa 25 bis 30 Stunden hat. Die kleine Zelle
generiert in Wachstumsprozessen, Abspaltungen, Überlagerungen,
Wucherungen, Ausweitungen und Vertiefungen einzelner Parzellen
den ganzen musikalischen Verlauf.
Dieser Entwurf ist fraglos der gewaltigste des ganzen 20. Jahrhunderts,
ja einer der gewaltigsten der ganzen Musikgeschichte. Ihn zu verwirklichen
verlangte eine Energie, eine spirituelle Kraft, die wohl nur
Stockhausen aufzubringen in der Lage war. Über diesen Entwurf, über
Stockhausens Frauenbild, über
seinen Kriegsbegriff (Dienstag), über sein Verständnis
von Humor, über Bastarde und Wesen der Vollkommenheit – über
all dies lässt sich im Grunde nicht diskutieren. Denn Stockhausen
setzt, bietet keine Debatte an. Er verlangt rigoros einen einverstandenen
Hörer. Vielleicht aber war es gerade dieser vom schöpferischen
Ego so ausschließlich dominierte Vorwurf, der es erlaubte,
musikalisch unerhörte Räume zu betreten. Stockhausen
ist hier im besten Sinne rücksichtslos radikal.
Stockhausen hat es nicht erleben dürfen, dass der gigantische
Zyklus einmal in toto zur Aufführung gelangt (selbst einzelne
Opern, besonders der Sonntag, vermochten nur in Teilaufführungen
realisiert werden). Die Anforderungen sprengten fraglos die materialen
(oder materiellen) Voraussetzungen des hiesigen Opernbetriebs.
Die Zukunft wird erweisen, ob die klanglichen Aufrisse eine ähnliche
vorwegnehmende, visionäre Kraft besitzen, wie das in seinen
früheren Arbeiten der Fall ist. Zu ahnen ist dies jedenfalls
an solch exorbitanten Herausforderungen, wie sie etwa das Hubschrauberquartett
im Mittwoch oder auch die „Hoch-Zeiten“ im Sonntag
darstellen. Hier in diesem Chor-Orchesterstück verwirklichte
Stockhausen auf bestechende Art das Mysterium der Vereinigung und
gegenseitigen Befruchtung zweier im Grunde konträrer Prinzipien
(zwei Orchester spielen in zwei Sälen Stücke, die im
Grunde zusammen gehören, allerdings nie vollends zusammen
kommen; nur wie durch eine Membran werden kurze Ausschnitte in
den jeweils anderen Saal übertragen und eine „Samenzelle“,
ein Trompeter, wechselt für kurze Zeit den Raum, dringt in
ihn ein).
Ein ganzes Konvolut solcher Anregungen ist in „Licht“ hinterlassen.
Stockhausen hat seine Aufgabe erledigt, mögen die zurückgebliebenen
Menschen damit machen, was sie wollen. Er ist am 5. Dezember 2007
zurückgekehrt in das Reich, das ihm immer schon die transzendentale
Inspiration lieferte. Sei es der Sirius, sei es anderswo.