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nmz-archiv
nmz 2008/02 | Seite 39
57. Jahrgang | Februar
Rezensionen-CD
Alte Pianisten oder: Falsche-Noten-Spielern zum Lobe
Beethoven-, Chopin-, Reger- und Schumann-Einspielungen
Wettbewerbe demonstrieren unüberhörbar: nie ist besser
Klavier gespielt worden als heutzutage. Das bezieht sich auf die
internationale Pianistenschar zwischen zwanzig und fünfunddreißig,
die – mit ihrem Prototypen Lang Lang an der Spitze – zu
jeder Zeit, an jedem Ort und für jede Gelegenheit quasi abrufbereit
zur Verfügung steht. Die jungen Leute machen Furore auf aktuellen
Tonträgern und – in Abstufungen – ebenso in den
Konzertsälen. Dort vermittelt sich der Eindruck meistens noch
objektiver als durch die studioproduzierten Aufnahmen. Diese Generation
kann auf dem Klavier alles, zumindest fast alles. Sie exekutiert
die Musik, von Bachs objektivierenden Kontrapunkt-Künsten
bis zu Prokofieffs Virtuositäts-Exzessen, technisch unfehlbar,
klanglich raffiniert, artikulatorisch detailreich ausgefeilt, und
sie vermag mit ihrer komplexen Wirkungskraft anstrengungslos zu
beeindrucken.
In
dieser Besetzung keine „Falschspieler“: Rudolf
Serkin (re.) mit Mstislav Rostropovich. Foto: nmz-Archiv/DG-Steiner
Artur Rubinstein hat geschrieben und häufig gesagt, er sei
immer ein Viele-falsche-Noten-Spieler gewesen. Für andere
aus seiner Zeit gilt das nicht weniger, für Rubinstein selbst,
wenn man es recht sieht, wohl noch am wenigsten. Vier der fünf
hier anzuzeigenden Pianisten waren Falsche-Noten-Spieler. Die Ausnahme
betrifft den Jüngsten von ihnen, den 1909 geborenen Shura
Cherkassky. Der konnte, wenn er in eine Höllengangart verfiel,
vielleicht mal unklar im Klangbild werden. Falsche Noten jedoch
sind von ihm nicht überliefert – im Gegensatz zu den
anderen hier zu präsentierenden Pianisten, geboren zwischen
1877 (Cortot) und 1903 (Serkin).
Bleiben wir dabei: es ist nie besser Klavier gespielt worden
als heute. Aber ergänzen wir sofort: es ist nie so gut und überzeugend-originell
musiziert worden wie damals von den zitierten und wie von vielen
unerwähnt bleibenden anderen Pianisten der alten Generation.
Gerechterweise sei gesagt: es gab immer Ausnahmen in beiderlei
Hinsicht, und es existieren diese Ausnahmen auch heute bei den
jungen Pianisten. Zu sprechen aber ist von dem heutigen Trend,
jeden, der fehlerfrei und sehr schnell Klavier spielen kann, zum
Star-Pianisten auszurufen. Die hier markierten Fähigkeiten
reichen vielen Veranstaltern und Medienverantwortlichen, zumal
sie dem Publikum reichen, um diesen Spielertypus – oft hemmungslos – zu
favorisieren.
Es soll hier nicht abgerechnet werden zwischen dem Klavierspiel
von heute und von ehedem. Sehr wohl aber sollen die Verdienste
der Cortot, Erdmann, Kempff, Serkin und Cherkassky verdeutlicht
und die sie publizierenden CD-Labels mit der ihnen dafür zukommenden
Anerkennung bedacht werden. Die fünf alten Pianisten waren
erstklassige Klavierhandwerker. Sie waren aber außerdem und
vor allem musizierende Künstler, die wussten, was sie spielten
und wie sie es spielen wollten, um aus der gewählten Literatur
klischeebereinigte Persönlichkeitsbilder der Komponisten entstehen
zu lassen, auch aber um ihre eigene und unverwechselbare Spur zu
legen. Und wie taten sie das? Einige Stichworte zur Antwort.
Cortot nimmt Schumanns Klavierkonzert (mit dem musterhaft kooperierenden
Ferenc Fricsay am Pult seines RIAS-Orchesters) das Spielwerkhaft-Griffige
und -Behende, legt es wie eine freie Phantasie an, also so, wie
das mittlere 19. Jahrhundert die Ablösung vom strengen Sonatenhauptsatz
betrieb, durchwebt das Intermezzo mit der Leichtigkeit des Übergangs-Parlandos
zum Finale, dessen gefürchtete Synkopenpassagen als die expressiven
Schlüsselstellen fungieren. Kempff, immer für sein Beethoven-,
Schubert- und Schumannspiel gerühmt, verweist mit überraschender
Kompetenz auf Chopins Ernsthaftigkeit, die den Polen für André Gide
in die gleiche Rangordnung wie Bach stellte. Erdmann lichtet Regers
Klavierkonzert so auf (wie auch Serkin das in seiner Aufnahme mit
Ormandy versucht hat), dass der Grad der Zugänglichkeit zu
dieser angeblich sperrigen Musik merklich erhöht wird. Geradezu
unbeschreiblich ist Serkins Zugang zu Beethovens Diabelli-Variationen,
die als Kosmos von Gegensätzlichkeiten aufglühen. Dieser
Kosmos in seiner spektakulären Vielschichtigkeit wird von
ihm derart eigengeprägt erfasst und so musikalisch wie reflektorisch
erfüllt dargestellt, dass der Hör-eindruck nur hymnisch
zu beschreiben ist. Cherkassky endlich war immer der grandiose
Liszt-, Chopin-, Rachmaninow-Virtuose, der andererseits Bergs Sonate,
Webern, Boulez und Stockhausen gespielt hat. Auf der neuen ORFEO-CD
drängen sich neben Brahms’ beiden Büchern der Paganini-Variationen
vielleicht Liszts Réminiscences de Don Juan in den Vordergrund
der Betrachtung, weil neben Virtuosität pur der Aspekt des
Magischen, des Dämonischen zum Ausdruckssediment des Ganzen
wird – also der Geist Mozarts in die Verständnisebene
des 19. und übergreifend des 20. Jahrhunderts in eine friedlose
Neuzeit gehoben wird.
Hanspeter Krellmann
Diskografie
Beethoven: Sonate E-Dur op. 109,
Diabelli-Variationen; Rudolf Serkin
Music & Arts CD 1200
Chopin: Polonaise fis-Moll op. 44, Ballade f-Moll op.
52,Scherzo E-Dur op. 54, Brahms: Paganini-Variationen a-Moll
op. 35, Liszt:
Réminiscences de Don Juan, Mendelssohn: Capriccio e-Moll
op. 16,2; Shura Cherkassky
ORFEO C 720071 B
Reger: Klavierkonzert, Schubert: Sonate B-Dur D 960,
Schumann: 6 Intermezzi op. 4; Eduard Erdmann, Kölner Rundfunk Sinfonie
Orchester, Hans Rosbaud
ORFEO C 722071 B
Schumann: Klavierkonzert, Tschaikowsky: Symphonie Nr.
5 e-Moll op. 64; Alfred Cortot, RSO Berlin, Ferenc Fricsay
audite 95.498