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nmz-archiv
nmz 2008/02 | Seite 34
57. Jahrgang | Februar
DTKV Bayern
Musik soll vital, kunstvoll, verständlich sein
Harald Genzmer verstarb am 16. Dezember 2007 in München
Meine letzte Begegnung mit Harald Genzmer fand im November kurz
vor seinem Tod statt: Er legte Wert darauf, mir seine jüngste
(und er ahnte wohl, dass es seine letzte sein sollte) Komposition – Variationen
für Altflöte solo – persönlich zu übergeben.
Bereits bettlägrig, aber in geistiger Frische, erklärte
er mir das Werk, und wir besprachen die Uraufführung sowie
eine mögliche Veröffentlichung. Nur kurz konnte sich
Harald Genzmer noch einmal erholen, er starb am 16. Dezember vergangenen
Jahres in seinem Haus in München-Bogenhausen. Anlass zu seiner
letzten Komposition ergab sich im Zusammenhang mit der Uraufführung
seiner 3. Sonate für Flöte und Klavier im vergangenen
Oktober im Münchner Gasteig. Selbstverständlich war der
Komponist anwesend – für Harald Genzmer war es bis zuletzt
Ehrensache, nach Möglichkeit seinen Aufführungen beizuwohnen.
Bei diesem Konzert spielte ich auch „Adieu“ für
Altflöte solo von Nikolaus Brass. Tags darauf rief Harald
Genzmer an, erkundigte sich eingehend nach der Altquerflöte,
die ihn faszinierte, aber ihm bislang noch nicht so vertraut war:
nach wenigen Tagen war die neue Komposition fertig.
Dieses Interesse an – zumindest für seine Generation – noch
ungewöhnlichen Instrumenten war charakteristisch für
Harald Genzmer. So entstanden auch Kompositionen für
Hackbrett, Glasharfe, Heckelfon, Panflöte, Carillon oder in
jüngster Zeit für keltische Harfe sowie die frühen
Meilensteine elektronischer Musik für den Trautoniumvirtuosen
Oskar Sala, den Kommilitonen aus der Berliner Kompositionsklasse
von Paul Hindemith, in der Genzmer 1928 bis 1934 studierte. Auch
ist kaum eine Besetzung denkbar, die Genzmer nicht reizte, besonders
wenn ein Ensemble ihn um eine Komposition bat. So war Genzmer in
vieler Hinsicht ein Pionier, wenn auch nie Avantgardist. Suspekt
blieb ihm jeder Dogmatismus, der so mancher Musikströmung
im 20. Jahrhundert anhaftet. Musik bedeutete für ihn „Dienst
am Menschen“, und er präzisierte: „Musik soll
vital, kunstvoll und verständlich sein. Als praktikabel möge
sie den Interpreten für sich gewinnen, als erfassbar sodann
den Hörer.“ Ausgehend von handwerklicher Souveränität
lehnte sich Genzmers Stil in der ersten Schaffensphase an seinen
Lehrer Paul Hindemith an, und vor allem seine frühen Orchesterwerke
erinnern auch an spätromantische Klanggemälde – Richard
Strauss’ „Alpensinfonie“ erwähnte Genzmer
immer wieder als Schlüsselerlebnis seiner Jugend. Seit den
50er-Jahren werden neue Einflüsse deutlich: Quartschichtungen
der Impressionisten, archaische Quint- und Oktavklänge sowie
die Volksmusik verschiedener Länder und Kulturen, die Genzmer
in sein Schaffen einbezog und an deren unregelmäßigen
tänzerischen Metren er Vergnügen fand. In bisweilen herber
kontrapunktischer Verarbeitung entstand daraus Genzmers unverwechselbare
Handschrift.
1934 kam Harald Genzmer als Korrepetitor an die Breslauer Oper
und wurde bald Studienleiter. Hier war er „Mädchen für
alles“ und erwarb das praktische Rüstzeug für den
kompositorischen Umgang mit Orchester. Davon zeugen über 70
Orchesterwerke, darunter 5 große Sinfonien, über 30
Instrumentalkonzerte und ein Ballett. Lediglich die Oper sparte
Genzmer aus: Dafür sei er nicht geboren und überlasse
das berufeneren Kollegen, namentlich Strauss, Orff und aus der „jüngeren“ Generation
Henze. Für viele ein Rätsel, hatte er doch dramatisches
Gespür und umfassendes Interesse an Theater und Literatur,
das er in inspirierenden Gesprächen vermitteln konnte und
das sich auch ausdehnte auf Philosophie, bildende Kunst (Genzmer
gehörte u.a. zur Ankaufskommission der bayerischen Museen),
Physik und Astronomie.
1937 ging Genzmer zurück nach Berlin, da die in Breslau erwartete
NSDAP-Mitgliedschaft für ihn nicht in Frage kam. Er unterrichtete
an der Volksmusikschule Berlin-Neukölln bis 1942: „Hier
hatte ich den ersten wirklichen Kontakt mit musikalischen Laien
und habe gelernt, auch für junge Leute zu schreiben, was ich
bis heute gerne getan habe. Das Rüstzeug dafür erwirbt
man nicht an der Oper, sondern nur durch den Kontakt mit jungen
Menschen.“ Ein Großteil seines Schaffens widmete Genzmer
Schülern und musikalischen Laien. Musikantisch, lustvoll und
einfach zu bewältigen, jedoch nie simpel ist Genzmers Spielmusik.
Musizieren in diesem Sinn war für Genzmer seit seiner frühesten
Jugend eine Selbstverständlichkeit. Hausmusik gehörte
zum Leben der Familie Genzmer. Die Mutter spielte Klavier, der
Vater Harmonium. Die beiden Schwestern lernten Block- und Querflöte,
er selbst Klavier – vorwiegend von der Mutter. Eine kontinuierliche
musikalische Ausbildung für den jungen Harald Genzmer scheiterte
allerdings am häufigen Wechsel des Wohnorts. Als Jurist und
Germanist (heute noch gültig ist seine Edda-Übersetzung)
musste der Vater berufsbedingt mit der Familie von Blumenthal bei
Bremen – hier wurde Harald Genzmer 1909 geboren – nach
Posen, dann nach Berlin und Rostock umziehen, bis er 1923 eine
Jura-Professur in Marburg annahm. Jetzt erst erhielt Harald Genzmer
geregelten Klavierunterricht, spielte Orgel in der Kirche und hatte
Harmonielehreunterricht beim Marburger Universitätsmusikdirektor
Hermann Stephani. Sein Taschengeld verdiente er mit Tanzmusik und
investierte es unter anderem in eine Partitur des 3. Streichquartetts
von Paul Hindemith, um vorbereitet einer Aufführung durch
das Amar-Quartett mit Hindemith an der Bratsche beiwohnen zu können: „Schon
nach dem Erklingen der ersten Takte wurde mit bewusst, dass hier
etwas ganz Neues geschah. Ich legte die Partitur zur Seite und
hörte nur noch fasziniert zu. Damals schon dürfte bei
mir der Entschluss gereift sein, mir bei diesem Komponisten eines
Tages Rat zu holen.“
1940 bis Kriegsende wirkt Harald Genzmer als Klarinettist
und Pianist bei Lazarett- und Wehrmachtskonzerten mit, unter anderem
gemeinsam mit Gustav Scheck, dem Nestor des modernen Flötenspiels
in Deutschland, zu dem bereits Anfang der 30er-Jahre eine freundschaftliche
Beziehung bestand und aus der eine fruchtbare künstlerische
Zusammenarbeit entstand.
Scheck, der Initiator und Gründungsdirektor der Freiburger
Musikhochschule, holte Genzmer nach dem Krieg 1946 als Professor
für Komposition. 1957 folgte Genzmer dem Ruf an die Münchner
Musikhochschule. 1964-74 leitete er zusätzlich die Musikabteilung
der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und setzte
sich hier für eine Verbindung aller Kunstrichtungen ein. Nach
seiner Emeritierung 1974 widmete sich Genzmer ausschließlich
der Komposition und komplettierte sein Œuvre, das wohl zum
umfangreichsten eines Komponisten des 20. Jahrhunderts zählt
und nahezu für jedes Instrument und jede Besetzung Repertoirestücke
bereithält.
Dieses Œuvre ist fast ausnahmslos bei seinen drei Hauptverlagen
Peters, Ries & Erler oder Schott veröffent-licht. Viele
Werke entstanden auf Anregung von befreundeten Solisten und Ensembles
und so scheinen sich instrumentale Schwerpunkte herauszukristallisieren:
Musik für und mit Flöte, Harfe, Klavier, Orgel, Saxophon,
Schlagzeug, Vokalmusik … Aber auch für alle anderen – Streich-,
Blas- und Zupfinstrumente – hat Genzmer reichlich geschrieben.
Nach dem Tod seiner Frau wollte Genzmer sich von seinen Aktivitäten
zurückziehen, aber bereits wenige Monate später meldete
er sich mit dem Entschluss zurück, wieder arbeiten zu wollen.
Da war er fast 94 Jahre alt und es entstanden noch zahlreiche Werke – vorwiegend
Solos und Duos. „In meinem Alter komponiert man nicht mehr,
da greift man auf Altes zurück“ äußerte Genzmer
einmal und bezog sich auf seine gesammelte kompositorische Erfahrung,
auf die er sich verlassen konnte, die aber nie zur Routine wurde.
Für sein Wirken wurde Harald Genzmer mit höchsten Ehrungen
und Auszeichnungen bedacht, die er gerne annahm. Ebenso erfreuten
ihn Aufführungen in aller Welt – von Amerika bis Japan – ,
von denen er im hohen Alter zunehmend Mitteilung erhielt, sowie
zahlreiche Einspielungen seiner Werke auf Tonträger. Eine
eigene CD-Reihe mit Werken Harald Genzmers gibt THOROFON/ BELLA
MUSICA heraus. Rund 15 CDs sind bereits erscheinen, weitere werden
folgen. Und als der Landesverband Bayerischer Tonkünstler
1983 die Monografienreihe „Komponisten in Bayern“ startete,
war es für den Herausgeber Alexander L. Suder selbstverständlich,
den ersten Band Harald Genzmer zu widmen. Zu Genzmers 90. Geburtstag
erschien er in zweiter Auflage mit aktualisiertem Werkverzeichnis
(Hans Schneider, Tutzing). Der Verband Münchener Tonkünstler
ist dankbar und stolz, dass mit Harald Genzmer einer der bedeutendsten
Komponisten unserer Zeit Mitglied und Ehrenmitglied war. Als Harald
Genzmer 1957 nach München kam, trat er in unseren Verband
ein und hat mit Präsenz, Rat und Unterstützung unsere
Aktivitäten über ein halbes Jahrhundert begleitet. Die
Aufführungen seiner Werke waren immer ein wesentlicher Bestandteil
unserer Konzertreihen und werden es gewiss auch in Zukunft bleiben.