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nmz-archiv
nmz 2008/03 | Seite 43-44
57. Jahrgang | März
Oper & Konzert
Countertenor singt Märchen
Stuttgarts Eclat-Festival mit einer Schnebel-Uraufführung
Die Tage Neuer Musik in Stuttgart, die sich vor einigen Jahren
den griffigen Titel „Eclat“ gegeben haben, sind neben
den Donaueschinger Musiktagen und den Wittener Tagen für neue
Kammermusik zum wichtigsten Avantgarde-Treffen der Bundesrepublik,
und sogar darüber hinaus, geworden. Als Veranstalter fungiert
Stuttgarts „Musik der Jahrhunderte“ unter ihrer Intendantin
Christine Fischer, in enger Verbindung mit der Stadt Stuttgart
und dem Land Baden-Württemberg und vor allem mit dem Südwestrundfunk,
dessen Redakteur für Neue Musik, Hans-Peter Jahn, die künstlerische
Gesamtleitung innehat. Hans-Peter Jahn hatte auch für den „Eclat“-Jahrgang
2008 wieder ein kontrastreiches Programm entworfen, in dem sich
die vielfältigen Perspektiven der Neue-Musik-Szene spiegelten.
Tage
der Neuen Musik bieten auch anrührende Momente: Beim
diesjährigen „Eclat“-Festival in Stuttgart
wurde Dieter Schnebels erstes Streichquartett uraufgeführt
(siehe Bericht auf den Seiten 43/44). Bei einem Empfang
danach begegneten sich Komponist und Festivalleiter Hans-Peter
Jahn, der mit einem eigenen Cello-Beitrag seinen sechzigsten
Geburtstag feierte.
Foto: Charlotte Oswald
Nicht nur in Stuttgart haben sich diese Perspektiven in den vergangenen
Jahren bemerkenswert erweitert. Beschränkten sich Festivals
mit Neuer Musik früher vorwiegend auf die Präsentation
neuer konzertanter Werke, instrumental oder auch vokal, so drängten
sich inzwischen szenische, filmische, auch Textbeiträge, Performances
oder Installationen immer stärker ins Zentrum der Programme.
Auch die Neue Musik scheint immer stärker dem Zwang des Optischen
zu erliegen. Willst du Schau, geh’ ins Lichtspiel, hieß es
in den Zwanziger Jahren. Heute müsste man sagen: Geh’ zum
Avantgarde-Festival.
Immerhin erwachsen Gegenkräfte, die dem Zwang zum reinen Hören
folgen – Nonos „Prometeo“, die „Tragödie
des Hörens“, zeitigt offensichtlich erste Erfolge. Seit
vielen Jahren schon drängte Hans-Peter Jahn den Komponisten
Dieter Schnebel zu einem Streichquartett. Die Gattung des Streichquartetts
erfreut sich ja unerhörter Beliebtheit. Beethoven-Zyklen sind
hoch aktuell. Viele zeitgenössische Komponisten berufen sich
speziell auf das Spätwerk Beethovens, dessen formale Kühnheiten
weit in die Zukunft wiesen und schon vor vierzig Jahren einen Stockhausen
inspirierten. Bei den Kasseler Musiktagen 2007 erhielten zehn jüngere
Komponisten den Auftrag, neue Streichquartette zu schreiben, die
dann an acht Abenden jeweils zwischen zwei Beethoven-Quartetten
platziert wurden.
Dieter Schnebel befindet sich mit seinem ersten Streichquartett
also, wenn auch sehr spät, auf einer aktuellen Linie. Aber
Schnebel wäre nicht er selbst, wenn er sich nicht etwas Besonderes
für sein Quartett-Entree ausgedacht hätte. Der Titel: „1.
Streichquartett im Raum“ gibt schon einen Hinweis. Die vier
Spieler sitzen nicht in vertrauter Anordnung auf dem Podium, sondern
verteilen sich, weit voneinander entfernt, im großen Konzertsaal
des Stuttgarter Theaterhauses. Dann aber gerät das Quartett
in Bewegung. Die Musiker versammeln sich auf dem Podium, drehen
einander den Rücken zu, hocken sich im Kreis um die Notenpulte
in der Mitte, marschieren stampfend über die Bühne, die
sie schließlich in weiten Abständen voneinander okkupieren
--- unsere Bilder vermitteln davon einen guten Eindruck.
Schau
mich bitte nicht so an/Vertragt euch wieder/Haltet Abstand
(Bild unten): Szenen aus Dieter Schnebels Streichquartett
Nr. 1. Fotos: Charlotte Oswald
Im Gegensatz zu Jonathan Harveys Streichquartett Nr. 4, das zu
Beginn des Konzerts erklang und mittels Elektronik einen Raum-Klang
erzeugte, verzichtet Schnebel auf die elektronische Hilfe. Er inszeniert
Raum-Klang mit herkömmlichen Mitteln, zu denen auch tonale
Anklänge gehören. Die Auflösung der traditionellen
Sitzordnung eines Streichquartetts könnte man als eine Art
Dekonstruktion bezeichnen. Aber Schnebels Intentionen zielen weiter.
Er möchte die Totale des Streichquartettschaffens seit Haydn
für die Gegenwart adaptieren, was umso logischer erscheint,
weil das Quartettkomponieren, wie oben schon gesagt, besonders
aktuell geworden ist. Schnebel betont die Rück-und Querbeziehungen
dadurch, dass er mehrfach zitatähnliche Einschübe in
seine Komposition einfügt, nicht im Sinne eines bloßen
Zitierens, sondern als Vergewisserung: dass die Geschichte der
abendländischen Musik ein großes Kontinuum darstellt,
aus dem auch die so genannte „Neue Musik“ nicht ausgetreten
ist. Dieser Blickwinkel verleiht Schnebels Streichquartett über
die Lust des Dekonstruierens hinaus eine wunderbare ernste Würde.
Dem Pariser Quatuor Diotima war eine grandiose Wiedergabe von Schnebels „Erstling“ zu
danken, so wie es auch Jonathan Harveys Quartett mit großer
Intensität gestaltete, während
Misato Mochizukis „Terres rouges“ für Streichquartett
trotz perfekter Darstellung in den Ausdrucksmitteln leicht schematisch
und geräuschhaft-monochrom wirkte. Im selben Konzert erklangen
auch zwei neuere Werke von Martin Smolka für gemischten Chor.
In Smolkas Komposition „Walden, the Distiller of Celestial
Dews“ nach Texten von Henry David Thoreau, wo zum Chor noch
ein Schlagzeug tritt, scheint hinter der vordergründigen,
fast hymnischen romantischen Verehrung der Natur auch eine schmerzliche
Brechung auf, die von der Gefährdung der Schönheit kündet.
Das SWR Vokalensemble unter der Leitung von Marcus Creed lieh
den Smolka-Kompositionen die hohe Kompetenz. Es ist immer wieder
faszinierend
zu hören, auf was für einem Spitzenniveau dieser Chor
singt, wie sich jede einzelne Stimme im Kollektiv durchsetzt und
mit diesem vereint. So entsteht ein mitunter fast instrumentaler
Klang von höchster Transparenz. Man müsste dieses Klangwunder
als Weltkulturerbe deklarieren, damit nicht uneinsichtige Intendanten
den Klangkörper durch Ausdünnungen in die vokale Bulimie
treiben.
Hans-Peter Jahns Verlangen nach einem reinen „Hör“-Stück,
wenn auch in bewegungstheatralischer Anordnung, ließ ihn
nicht auf Wirkungsvoll-Szenisches verzichten. Der argentinische
Komponist Oscar Strasnoy verfasste auf ein Libretto seines Landsmannes
Alejandro Tantanian ein „Musikalisches Märchen für
drei Interpreten“: den Countertenor Daniel Gloger, den Viola-Spieler
Garth Knox und – als eingefügte, fast stumme Schauspielerin – Dorothea
Reinhold.
Oscar
Strasnoy komponierte ein musikalisches Märchen für
drei Interpreten – Daniel Gloger, Garth Knox und
Dorothea Reinhold (v.r.). Foto: Charlotte Oswald
Man denkt dabei zunächst an die „Zauberflöte“,
an Papagena, die zunächst als schrumpelige Alte dem verdutzten
Papageno die Heirat verkündet. Auch hier gibt es eine ähnliche
Ausgangssituation: Ein schöner junger Prinz verliebt sich über
ein gefundenes Taschentuch in eine wunderhübsche junge Dame,
die sich dann in der Realität als hässliche Alte entpuppt.
Er wirft sie aus dem Fenster, sie bleibt in einem Gebüsch
hängen, aus dem sie drei Feen befreien und sie zugleich in
die Jugend zurückversetzen. Das glückliche Ende ist vorgezeichnet,
wird aber doch ein wenig eingetrübt, weil noch andere ältere
Damen entsprechende Wünsche anmelden.
Man könnte das Ganze für eine poetische Reflexion über
unseren Jugendwahn und die Vergreisung der Gesellschaft nehmen,
doch die Autoren und der brillante Daniel Gloger sowie die Regisseurin
Renate Ackermann (mit Dorothea Reinhold) benutzten Strasnoys „Fabula“-Vorlage,
entsprechend diesem Titel, vornehmlich als virtuose Spielvorlage.
Daniel Glogers vokale Equilibristik nötigte restlose Bewunderung
ab, er bewies auch hinreißende komödiantische Qualitäten.
Garth Knox setzte mit seiner Viola d’Amore nicht nur die
plastischen instrumentalen Akzente, sondern avancierte zugleich
zum musikalischen Gesprächspartner des „Prinzen“.
Unser Bild auf der vorigen Seite vermittelt einen guten Eindruck
von der Aufführung.
Schnebels Streichquartett und Strasnoys „Fabula“ bildeten
so etwas wie das Zentrum der „Eclat“-Tage. An Interessantem – und
auch Überflüssigem –fehlte es auch in weiteren
Fällen nicht. Fausto Romitellis Vierzig-Minuten-Trilogie vom „Professor
Bad Trip“ für Ensemble und Elektronik wurde vom brillanten
Ictus-Ensemble zu einer wahren Klang-und Geräuschorgie mit
psychedelisch-wabernden Untertönungen gesteigert. Fünfzig
Minuten dauerte auch ein anderes Stück: des Italieners Oscar
Bianchi „Matra“, eine Cantata für Vokalensemble,
Instrumentalensemble, Trio concertante und Elektronik. Begegnungen
des Komponisten mit der indischen religiösen Philosophie inspirierten
ihn zu einer ausführlichen musikalischen Reflexion von großer
kompositorischer Dichte, deren inhaltliche Anspielungen sich in
manchen Klangerfindungen mehr ahnen als beim ersten Hören
begreifen lassen.
Der Schweizer Stefan Keller schrieb mit „driven“ ein
Ensemblestück mit einer differenzierten Bewegungsstruktur.
Vykintas Baltakas komponierte den Neuen Vocalsolisten Stuttgart
mit seiner „Instruktion zur Durchführung einer alten
Liebesbeschwörung“ ein effektvolles, in Text und Anlage
fein strukturiertes Stück in die virtuosen Kehlen.
Delikate Klang- und Balance-Spiele mit Stimmen und/oder Posaunen
brachte ein Programm mit Werken von Wolfgang Rihm, Günter
Steinke, Rebecca Saunders, Martin Smolka, Enno Poppe und Bernhard
Gander, denen mit Kompositionen von Giovanni Gabrieli und Cesario
Gussago der Ursprung der alten Mehrchörigkeit zur Seite gestellt
wurde. Für die meisten Besucher verzichtbar war wohl eine
Film-Installation von Werner Fritsch mit der Musik von Mark Polscher,
die unter dem Titel „Muspilli-Triptychon“ siebzig Minuten
einen abgestandenen Bilder-Symbol-Quark auf drei Leinwände
projizierte. Von Hans-Peter Jahn weiß man, dass er auch ein
wenig das ästhetische Chaos liebt. Da er während der „Eclat“-Tage
seinen sechzigsten Geburtstag feierte (siehe unser Titelbild auf
Seite 1), möchte man als Entschuldigung unterstellen, dass „Muspilli“ ein
Geschenk an sich selbst war.