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nmz-archiv
nmz 2008/03 | Seite 45
57. Jahrgang | März
Oper & Konzert
Mutmacher-Festival eines Paradigmenwechsels
Das musica viva Festival hielt München in kreativer Spannung
Eigentlich war es so etwas wie ein Schuss aus der Hüfte. Dafür
aber hat man erstaunlich genau getroffen. Im Grunde nämlich
gab es kaum einen Anlass für dieses erstmalig und hoffentlich
nicht letztmalig veranstaltete musica viva Festival 2008, das sich über
vier Wochenenden mit zehn Konzerten, Installationen und einem Symposion
zu Fragen des Experimentellen in der Musik vom 25. Januar bis zum
15. Februar erstreckte. Die verschämt vorgeschobene zehnjährige
Amtszeit des künstlerischen Leiters Udo Zimmermann kann wohl
kaum als Begründung für so ein Großprojekt herangezogen
werden. Der Publikumszuspruch hat gewiss auch die Veranstalter überrascht
(nahezu alle Konzerte waren ausverkauft, ein Kammerkonzert, freilich
in beengterem Raume, musste sogar wiederholt werden, um die Kartenwünsche
zu erfüllen). Umso schöner! Denn so wurde eher beiläufig
ein wichtiger Beweis erbracht: Ein Festival zeitgenössischer
Musik braucht keine Begründung, es gibt genug Menschen, die
es erleben wollen, es nimmt Züge von Normalität an.
Das ist es ja, was immer wieder von den Hütern der Tradition
ins Feld geführt wird (schon Mahler meinte zum Wiener Musikleben: „Was
ihr als Tradition bezeichnet ist nicht anderes als eure Schlamperei!“):
Neue Musik ist nicht vermittelbar, uns bleibt das Publikum weg
und so weiter. Nun kann es schon sein, dass diesen Veranstaltern
ihr von ihnen zurechtgestutztes Publikum weg bleibt, aber Fakt
ist, dass sich mittlerweile andere Interessenkreise formierten.
Anzumerken wäre, dass es hierbei keineswegs um ein Gerangel
um die besseren Plätze zwischen Traditionswächtern und
Neuigkeitsfixierten geht. Es geht um Wahrnehmung von Musik in ihrer
Ganzheit, in der sie nicht zum Schönstunden-Füller degradiert
ist, sondern als ästhetische Botschaft erlebt wird. Es geht
um Weite. Wohl keiner, der sich von Feldman, Lachenmann oder Kurtág
angesprochen fühlt, wird deswegen Beethoven oder Mahler
gering schätzen, sondern sogar die Intensität der Wahrnehmung
gegenüber diesen Komponisten steigern, umgekehrt aber ist
das beim jetzigen so genannten normalen Publikum durchaus der Fall.
Das war vielleicht die wichtigste Botschaft des musica viva Festivals:
Es markierte den Beginn eines Paradigmenwechsels. Denn sonst war
durchaus nicht alles rund, es war eben doch ein schneller Schuss
aus der Hüfte. Kritisch anzumerken wäre, dass die programmatische
Zusammenstellung in den meisten Fällen Züge des wenig
Stimmigen oder auch Zufälligen annahm. Ein Gesicht hatte dieses
Festival nicht, konnte es auch nicht haben mit der Vorgabe an die
drei beteiligten ARD-Gastorchester (vom SWR, WDR, sowie die Deutsche
Radio Philharmonie Saarbrücken/Kaiserslautern, daneben noch
ein erfrischendes Konzert Alte Musik/Neue Musik mit dem Dresdner
Kreuzchor und dem Ensemble Courage mit einem sehr innigen Chorwerk „Pilgerfahrten“ für
Kinder und Erwachsene von Chaya Czernowin), einfach mitzubringen,
was man gerade im Gepäck hat. Bösartig könnte man
bemerken, dass Angebotsware auf den Tisch kam. Freilich war diese
der Not der schnellen Tat geschuldet und letztlich erwies sich
der Aufriss des Leistungsspektrums von ARD-Orchestern auch in seiner
Zufälligkeit als durchaus spannend und perspektivenreich.
Dazu trug auch maßgeblich das eigene BR-Orchester bei, das
mit Stockhausens „Mixtur 2003“ (herausragend vor allem
die elektronische Klanggestaltung durch das Freiburger Experimentalstudio)
und mit Bernhard Lang (UA des Zitherkonzerts „monadologie
I“), Karl Amadeus Hartmann (Erstaufführung der Symphonie
L’Œuvre von 1937/38) sowie einem Chor-Orchesterwerk
von Scelsi zwei markante, künstlerisch exorbitante Randpflöcke
ins Festival setzte. Die Referenz an den musica-viva-Gründer
Hartmann hat ein Werk aus schwierigster Zeit ausgegraben, das in
seiner formalen Stringenz, klanglichen Wucht und in der Tiefe seiner
Inspiration erschütterte. München, das sich so gerne
mit Strauss und Orff schmückt, darf stolz sein, einen solch
markanten und unerschütterlich eigenständigen und schöpferisch
Stellung beziehenden Komponisten hervorgebracht zu haben. Gegen
die Dringlichkeit seines Tons hatte es Bernhard Langs wagemutiges
Konzert für eine neu entwickelte E-Zither mit sich selbst
generierenden Loop-Modellen über zwölf unterschiedliche
Sound-Strukturen nicht leicht. Es entwarf vielleicht etwas katalogartig
perspektivische Klangverflechtungen, in denen ein von der Improvisation
her kommender melodischer Duktus vorherrschte.
Die große Emphase der Orchestermusiker blieb immer spürbar,
und auch dies war eine Beobachtung, die manche Vorurteile wohltuend
korrigierte. Aus dem BR-Orchester formierte sich denn auch ein
kleines Ensemble für Neue Musik, das ein eigenes Kammerkonzert
für das Festival zusammenstellte. Mit Arbeiten von Liza Lim,
Kaija Saariaho, Rebecca Saunders, Bojidar Spassov und Gerhard Stäbler
wurde zudem eine große ästhetische Spannweite auf erstaunlichem
spielerischem Niveau aufgeschlagen. Wichtiger aber: Auch unter
den Musikern in den Orchestern wächst die Bereitschaft, sich
den Herausforderungen zeitgenössischer Techniken zu stellen.
Auf zwei Uraufführungen in einem Konzert „Musik und
Szene“ sei noch verwiesen. Adriana Hölszky schrieb mit „Countdown“ eine
große Gesangsszene (Szenisches Konzertstück) mit exorbitanten
Anforderungen an die Gesangsstimme (Daniel Gloger mit überwältigender
Verausgabung!). Es war ein Gang durch österreichische Obdachlosenheime
in schonungsloser Schärfe und Brisanz, zugleich mit dem lakonischen
Unterton des depravierten Beobachters. Gegen diese Wucht konnte
der „Boxgesang“ von Michael Lentz und Uli Winters mit
lapidaren Kontaktrhythmen eines auf einen Sandsack einschlagenden
Boxers kaum bestehen. Etwas zu einfältig wirkten die von den
Inszenierungsideen im Umfeld von Boxkämpfen angeregten Einlagen,
bei denen nur der virtuos souveräne Auftritt eines Beatboxers
(Dalibor) zu bestechen wusste, was freilich kaum dem Konto von
Lentz/Winters gutzuschreiben war.
Neue Musik auf neuen Wegen! Das Festival wurde zum Ereignis,
das München über Wochen hinweg in kreativer Spannung hielt.
Es war ein Mutmacher-Festival, eine Aufforderung, den Musikbetrieb
neu zu denken. Über das gebotene Spektrum hinaus (hier wäre,
wie gesagt, eine inhaltlich genauer konturierende Hand bei eventuellen
Folge-Veranstaltungen durchaus wünschenswert) war dies die
eigentliche Botschaft der groß dimensionierten Veranstaltung.
Und dies wurde auch von den Verantwortlichen beim BR, insbesondere
beim Hörfunkdirektor Johannes Grotzky so gesehen, wie er im
Abschlusskonzert bei der Verleihung der BMW-Kompositionspreise
an Caspar de Gelmini und Pierre Stordeur (2. Preis), Heera Kim
(3. Preis) und an Miguel Farias und Michel Roth (Förderpreis)
nachdrücklich bekundete. Weitere Taten in diese Richtung mögen
folgen. Das Publikum steht bereit!