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nmz-archiv
nmz 2008/03 | Seite 45
57. Jahrgang | März
Oper & Konzert
An nichts und an alles erinnert werden
Uraufführung von Emmanuel Nunes’ deutschsprachiger Oper
in Lissabon
Als letzte Erzählung seines Novellenzyklus’ „Unterhaltungen
deutscher Ausgewanderter“ verfasste Johann Wolfgang von Goethe
im Jahre 1795 „Das Märchen“, mit Irrlichtern,
einer Gold fressenden Schlange, einem Riesen, einer traurigen,
todbringenden Fee Lilie hinter einem nur in einer Richtung überquerbaren
Fluss, dem Fährmann, einem Alten mit seiner Wunderlampe nebst
Frau, einem Prinzen, sowie einem unterirdischen Tempel mit vier
metallischen Königen. Diese pleonastische Häufung wunderlicher
Märchenelemente stellte selbst Goethe-Exegeten immer
wieder vor Rätsel.
Keine Skrupel bewies der 1941 in Lissabon geborene Emmanuel Nunes,
Schüler von Stockhausen und Boulez, die Novelle in direkte
Reden aufzulösen und sich so selbst das Libretto für
seine erste Oper zu verfertigen. Schon mit seinen sinfonischen
Werken hatte Nunes, einer der wichtigsten und erfinderischsten
Komponisten seiner Generation, mit überlangen Spieldauern
aufgewartet. Die beim Verlag Ricordi erschienene Oper in deutscher
Sprache kommt mit Prolog und zwei Akten auf eine reine Musikdauer
von über vier Stunden. Für das portugiesische Publikum
bedeutete die Uraufführung von Nunes’ Partitur eine
echte Herausforderung. Live in vierzehn große Theater des
Landes übertragen, soll sie rund elf Millionen Zuschauer erreicht
haben und damit mehr Rezipienten als je eine Opernuraufführung
zuvor. Als aber nach gut drei Stunden der zweite Akt begann, war
das Teatro Nacional de São Carlos nur noch rund zur Hälfte
gefüllt. Der zweite, nicht mehr wörtlich auskomponierte
Schlussteil des mit Fern-Orchester, Fernchor und IRCAM-Elektronik ästhetisch
an Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“ anknüpfenden „Märchens“ stellt
an die Zuschauer noch gesteigerte Anforderungen.
Die von dem Avantgardisten kreierte sinnliche und spirituelle
Klangwelt – vor, über
und hinter dem Zuschauer – integriert diverse Echos aus der
Musikhistorie, gemahnt bisweilen an die Vogelkonzerte von Messiaen,
wartet aber auch mit überraschend tonalen Flächen auf
und nutzt, wenn sie komisch sein will, Lautwiederholungen, wie
man sie aus den Bühnenwerken von Judith Weir kennt. Das mit
vier- bis sechsfachem Holz und Blech, zwei Harfen und bis zu neunfachen
Streichern, sowie gigantischem Fern-Schlagwerkkörper besetzte
Orquestra Sinfónica Portugesa wird von Peter Rundel aus
dem Zuschauerraum gefühlsstark und souverän geleitet.
Aus dem deutschsprachigen Sängerensemble ragen der Bassist
Matthias Hoelle in der Doppelrolle als Fährmann und Mann mit
der Lampe, sowie die Sopranistin Silja Schindler als (leider nicht
sehr textverständliche) Lilia heraus.
Als äußerst problematisch erweist sich hingegen die
szenische Seite der Uraufführung: Die Verdopplung der Figuren
in Sänger- und Sprecher-Stimmen hat Nunes selbst vorgeschrieben.
Die österreichische Regisseurin Karoline Gruber treibt das
Spiel weiter in eine Verdrei-, Vervier- und Vervielfachung durch
Pantomimen und Tänzer (Choreographie mit Improvisation: Amanda
Miller). Artisten verdoppeln die travestierenden Soli der Irrlichter
auf Stelzen oder in Stretch-Schlauchanzügen. Teils naiv (mit
gemalten Fischen und Objekten im Fluss, sowie den Belohnungsobjekten
Kohlkopf, Zwiebel und Artischocke an Vorzeigestöcken), teils
technisch aufwendig, mit Flugwerk und Bühnenwagen, ist die
Szene bemüht, dem Auge des Betrachters eine Fülle optischer
Reize zu bieten (Ausstattung: Roy Spahn). Die Flut an Bildern verbraucht
sich rasch und versiegt im zweiten Teil mit arg beliebigen, repetierten
Projektionen. Ein Castorf‘scher Live-Kameramann sorgt obendrein
für Verdopplung der hektischen Volksbewegung als Projektion.
Im Schlussakt seiner Oper verlangt der Komponist zweimal, längere
Passagen des Goethe-Textes als „Manuskript“ zu
projizieren; im ersteren Fall setzte das Produktionsteam statt
dessen den Film eines Vulkanausbruchs ein, am Ende aber wird der
Text des „Märchens“ tatsächlich auf einen
Gazeschleier geworfen: Während das Orchester bereits verstummt
und verdunkelt ist, singt der Chor aus der Mittelloge Extrakte
dieses Textes, rezitieren die Darsteller auf der Bühne Reminiszenzen
der Handlung als Sprechsymphonie.
Der körperlich leidende Komponist wurde vom Rest des Premierenpublikums
gefeiert, zeigte sich aber in einem Gespräch entsetzt über
die szenisch platte Umsetzung seiner Partitur, eines Werkprozesses,
der die vergangenen dreißig Jahre in Anspruch genommen hat.