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nmz-archiv
nmz 2008/03 | Seite 8
57. Jahrgang | März
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Begriffsgespenster
Die Neue Musik ist oft eine theorielastige Angelegenheit, was
ihr bekanntlich nicht gut bekommt. Eine Komposition, ein Lebenswerk
oder sogar eine ganze Musikrichtung können zur klingenden
Illustration gut ausgedachter Theoreme degradiert werden – zum
Schaden der Musik und des Publikums, das sich aus dem Diskurs
ausgeschlossen fühlt. Schlimmer aber sind die Spätfolgen.
Was einmal als ambitionierte Theorie oder auch nur als schlaues
Trendsetting begonnen hat, endet mit Sicherheit in den Niederungen
von nachgebeteten Floskeln und Schlagworten, die sich wie Mehltau über
die künstlerischen Impulse der Werke legen.
Das „musikalische Material“, einst vom klugen Adorno
in die Diskussion eingeführt, ist so zum Begriffsgespenst
geworden. Ähnlich ging es der „gesellschaftlichen Relevanz“,
dem „Widerstand“ gegen das „System“ (das
dummerweise durch den Subventionsbetrieb repräsentiert wird),
der „Neuen Einfachheit“ und „Neuen Komplexität“,
der „Medienkunst“ und der „Wahrnehmung“,
die unermüdlich „geschärft“ werden soll.
Und schon kommt das nächste theoretische Modewort herangeradelt:
das „Dispositiv“.
Bezeichnend für all diese Konstrukte ist, dass sie – mit
Ausnahme vielleicht des Materials im einstigen Sinn Adornos – nichts über
die künstlerischen Aspekte eines Werks aussagen, sondern sich
nur an Äußerlichkeiten festmachen: An Oberflächeneigenschaften,
an den Werkzeugen, an der Wirkung, am abstrakten Rezipienten. Diskutiert
wird nicht über die Sache, sondern über ihre Hülsen.
Das Werk selbst interessiert diese „Theoretiker“ offensichtlich
nicht mehr, weshalb sie konsequenterweise auch den Werkbegriff
ablehnen. An die Stelle des denkenden, über die bloße
Wahrnehmung hinausgehenden Hörens (Nono verlangte noch emphatisch
das „Hin-Hören“ – aber das ist lange her)
tritt die Tätigkeit des selbstreferenziellen Intellekts. Ihm
ist das individuelle Werk nur noch auslösender Reiz und Beweismaterial
für Reflexionen technischer, psychologischer oder gesellschaftlicher
Art. Wozu also noch hören? Wichtig ist, was auf dem Papier
respektive dem Bildschirm steht und auf dem Marktplatz der Begrifflichkeiten,
in Fachzeitschriften und Symposien, erfolgreich unter die Kolleg/-innen
gebracht werden kann.
Ein solches Symposium war nun einem Begriffsgespenst gewidmet,
das noch immer in der Neuen-Musik-Szene umgeht, obwohl sein altes „Uuuuh-uuuuh“ schon
längst zum Geisterbahneffekt verkommen ist: das Experiment.
Es bildete die begriffliche Begleitmusik zum Münchner musica
viva Festival und sollte diesem wohl eine höhere theoretische
Weihe verleihen, obwohl es das musikalisch facettenreiche Programm
gar nicht nötig hatte.
Was heißt „Experiment“, ein aus den exakten Wissenschaften
entlehnter Begriff, in der Musik? Alles und nichts: John Cage und
Neo-Dada der 1960er-Jahre, die Prolationskünste der Niederländer,
ein neues Computer-„Dispositiv“, das Herumwandern der
Orchestermusiker auf dem Podium, die Skordatur der Geige bei Heinrich
Ignaz Franz Biber. Ein Feld der Beliebigkeit tut sich auf, so recht
nach dem Geschmack begrifflicher Spekulanten. Heute wird das Schlagwort
auf alles appliziert, was in irgendeiner Weise unfertig und bruchstückhaft
daherkommt, und eignet sich auch perfekt dazu, Dilettantismus und
technologisch lackierten Kitsch jeder Art diskursfähig zu
machen.
Mit dem redundanten Symposiumsthema wurde eine Gelegenheit
vertan, einmal über die drängenden Fragen der heutigen
Musik nachzudenken – Fragen nicht zu den Hülsen, sondern
zum kreativen Kern. Dazu nur einige Stichworte: Die Veränderung
des Menschenbilds unter dem Einfluss moderner Technologien; das
Verhältnis von Inspiration und Technik; die vergessene Frage
nach dem Schönen; die Gefährdung der künstlerischen
Freiheit durch die normierenden Vorgaben von Auftragswesen und
Veranstalterästhetik; die Schwierigkeiten des Nachwuchses,
im Überangebot der Techniken und Ästhetiken eine eigene
Musiksprache zu finden. In Anbetracht der Ergebnisse des BMW-Kompositionspreises
der musica viva, die nach Auskunft von Juroren überaus dürftig
waren, wäre gerade Letzteres ein Thema von hoher Aktualität
gewesen.
Die Dringlichkeit, über Inhalte und nicht nur über Sekundärdaten
nachzudenken, zeigte sich auch bei der Überreichung der Kompositionspreise.
Da verrannten sich die drei Institutionsvertreter auf dem Podium
in einem Gedankengestrüpp, in dem es vor lauter Paradigmenwechseln,
Seinsgründen und liebem Gott nur so blitzte und krachte. Ein
bisschen viel für den eher bescheidenen Anlass. Das Bedürfnis
nach einer Einbettung der Neuen Musik in einen breiteren Wahrnehmungshorizont
in Ehren, aber um neue Orientierungen zu vermitteln, braucht es
mehr als ein Begriffs-Dropping vor gutwilligem Publikum. Es braucht
vor allem eine entsprechende Musik, und zwar eine heutige.
Wir alle, Komponisten, Interpreten, Veranstalter, Kritiker, Theoretiker
und Publikum, haben verlernt, über die geistigen Grundlagen
unserer Musik nachzudenken, und deshalb fällt es uns auch
so schwer, öffentlich darüber zu sprechen. In diesem
Licht betrachtet gleichen Symposien zu Themen wie Experiment dem
Bellen vor dem falschen Baum.