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2008/03 | Seite 14
57. Jahrgang | März
Ferchows Fenstersturz
Im Namen des Deliriums
Die Ablösung hat längst stattgefunden. Folterten uns
die Boulevard Magazine der TV-Sender vor kurzem noch mit Halbwahrheiten
und teuer eingekauften, vier Wochen alten Neuigkeiten von George
Clooney oder Nicole Kidman aus Hollywood, sind es derweil knallhart
recherchierte Sensationsnachrichten aus der internationalen Popbranche,
die von Moderatorinnen mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom oder Facelifting
vorgebracht werden. Okay, dass „Quietsche“-Sängerin
Yvonne Catterfeld nun Romy Schneider spielen soll, ist erstens
keine internationale Popnachricht und zweitens eine ungeheuerliche
wie unverzeihliche Geschmacksverirrung. Aber nehmen wir mal Amy
Winehouse, die der ramponierten Boulevard-Schiene eine neue Existenzberechtigung
gewährte. Die britische Soulsängerin dröhnt sich
seit Karrierebeginn herzlos mit Drogen und Alkohol zu. Und zwar
in einem Ausmaß, das sogar einem Alkoholiker und Kokser wie
Liam Gallagher (Beruf: Oasis-Sänger) oder einem routiniertem
Fixer wie Pete Doherty (Beruf: Junkie) der Angstschweiß auf
die dehydrierte Stirn tritt. In einem medizinisch nicht erklärbaren,
humanitären Kollaps, boten die beiden Samariter der britischen
Popszene Amy Winehouse Hilfe an. Schon die Vorstellung einer solchen
Dreier-Konferenz gäbe Stoff für fünf ARD-Brennpunkte
und einer von RTL- Anchorman Peter Kloeppl moderierten 72-Stunden
Nonstop-Nachrichtensendung mit dem rechts oben eingeblendeten Slogan: „Kampf
im Delirium“. Aber der Boulevard hat Größeres
zu dokumentieren: Winehouse verlässt das Haus, steigt ins
Auto, fährt weg, kommt im Club an, steigt aus, betritt den
Club, setzt sich, tanzt, wankt aus dem Club, kommt zu Hause an.
Dazu gibt es Standbilder des aktuellen Videos (mit Laufleiste und
Kauftipp), denn frisches Material kostet Geld und das braucht RTL
für Bohlens Popakademie oder PRO 7 für Tanzbär Detlef
D! Soost. Da ist es aus der Perspektive des Boulevards nur eine
Lappalie, dass Blake Fielder-Civil, der nicht minder abhängige,
gerade im Knast sitzende Ehemann von Amy Winehouse, die Autogramme
seiner Frau an Zellengenossen verhökert,
um sich die Drogen im Londoner Karzer leisten zu können. Da
wird sich Herr Zumwinkel eventuell eine andere Art von Beschaffungsmaßnahme überlegen
müssen. Und wenn Amy fünf Grammys in den USA abräumt,
jene berauscht per Liveschaltung in einem Club entgegen nimmt,
schlägt die Stunde des Boulevards. Schließlich hat George
W. Bush, einst selbst dem Beelzebub Alkohol verfallen, ihre Einreise
untersagt und den nationalen Verteidigungsbereitschaftszustand
auf Def Con 1 (alle verfügbaren Truppen werden eingesetzt) „upgegraded“.
Nun sind sie vereint: Pop, Politik und Boulevard. Übrigens
lautete die letzte Boulevard-Meldung: „Amy Winehouse hilft
Britney Spears. Oder war das doch Heidi Klum?