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nmz-archiv
nmz 2008/03 | Seite 14
57. Jahrgang | März
Nachschlag
Erbsen zählen
Zwei Beispiele aus der Welt des Sports. Denn der ist ja nicht
nur Mord, sondern auch erstens allseits beliebt und zweitens bestes
Anschauungsmaterial wie die Gesellschaft so tickt. A: Zwei Skifahrer/-innen
rasen die Piste hinunter, am Ende gelingt es dem einen um vier
Hundertstel schneller. Und jetzt kommen die Kommentatoren und Kritiker.
Der Sieger fand die Ideallinie, nahm überragend das Tempo
ins Flache mit, kantete kurz und glitt butterweich. Beim anderen
aber vermerkt man stirnrunzelnd leichte Fehlbelastungen des Innen-
oder Außenskis, ein weniger rundes Anfahren der Tore und
hie und da eine Spur zu verhaltener Aggressivität. Jetzt weiß der
erstaunte Zuseher, warum da zu Recht gewonnen wurde. B: Ein Fußballspiel
dümpelt vor sich hin. der Ball wechselt nach Belieben die
Seiten und entzieht sich immer wieder geschickt den Begehrlichkeiten
der Parteien. Der Kommentator klagt und stöhnt. Plötzlich
fällt aus heiterem Himmel ein Tor, weil der Hüter desselben
gerade seiner Geliebten eine Kusshand zuschickte und dem Gegner
ein geplanter Rückpass so eklatant missriet, dass der Ball
ins Gehäuse hoppelte. Jetzt kommt wieder der Kommentator auf
den Plan. Flugs hat sich sein Ton gewandelt. Er bescheinigt den
jetzt Führenden den unerlässlichen Mut zur Geduld, ja
eine geradezu listige Einschläferungstaktik, während
er den nun hinten Liegenden sträfliche Passivität und
fehlender Drang nach vorn zur Last gelegt wird.
Die Frage lautet nun: Wie sähen die Kommentare aus, wenn in
Fall A die Uhr ausgefallen wäre und niemand vorerst wüsste,
wer der schnellere war, und wenn in Fall B das Tor ebenso zufällig
auf der anderen Seite gefallen wäre? Wenn man über die
Landschaft der Musikkritiken blickt, dann mag man mitunter ähnliche
Kriterien in Aktion sehen. Der Niedergang der Musikkritik heute
manifestiert sich ja nicht nur in ihrer abnehmenden Relevanz in
Feuilleton, wo sie überwiegend zur nackten Opernregiekritik
verkommt, sie dokumentiert sich auch im oft kläglichen Bemühen,
minimalen Randbeobachtungen den Rang der Stichhaltigkeit einzuhauchen.
Damit hält der Kritiker auch Abstand zum Publikum, denn ihm
ist es gegeben, ein flüchtiges Verunklaren der Agogik, ein „kaum
vernehmbares“ Schwanken des Tempos, eine um eine Spur zu
spitz geratene Ansteuerung des Zieltons oder eine leichte Intonationseintrübung
beim Alt in den tieferen Lagen kritisch wahrzunehmen.
Der Tenor lautet: Darauf kommt es eben an. Tut es aber in den
meisten Fällen nicht, jedenfalls nicht in der Form einer Fehlerauflistung
(was nicht heißt, dass genaue Detailbeobachtung, freilich
nicht als gleichsam sportiver Selbstzweck, für die Kritik
notwendig wäre).
Entscheidend sollte doch der kritische Dialog mit dem Künstler
sein. Kleinkariertes Erbsen zählen wird immer mehr zur Attitüde
der Eitelkeit und dient nicht der Auseinandersetzung. Musikkritik
entzieht sich auf diese Weise dem Dialog. Vielleicht ist dies auch
ein Grund, warum sie in letzten Jahren so sehr an Boden verlor.