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nmz-archiv
nmz 2008/03 | Seite 4-5
57. Jahrgang | März
Magazin
Vom gesellschaftspolitischen
Sinn der Forschung
Zur Kritik an der
Langzeitstudie „Musikerziehung und ihre Wirkung“1 · Von
Hans Günther Bastian
Prolog: Über
Kritik
Wer
forscht und publiziert, der muss mit Kritik leben. Keine Frage! Sind
Besprechungen formal und material schwach oder forschungsmethodisch
wirklichkeitsfremd, dekuvriert sich der Rezensent selbst.
Selbstverständlich muss eine Rezension immer autonom bleiben und
sie muss - der Sache und des Erkenntnisfortschrittes wegen - immer
kritisch sein. Im besten Fall sollte der „Gutachter“ ein
Experte des Faches sein, einer der von empirischer Forschung etwas
versteht und im Idealfall sogar selbst geforscht hat. Am Beispiel
unserer Studie war ich als projektverantwortlicher Autor schon
überrascht, wer alles sich zu Wort meldete. Selten wohl ist eine
Studie unseres Faches mit so extrem unterschiedlichem Echo
aufgenommen worden, die Skala der Bewertungen reichte von totaler
Euphorie, die gar von einer „Jahrhundertstudie“ sprechen
ließ, bis hin zu barscher Kritik und Ablehnung. Bei
so mancher „Besprechung“ konnte ich mich des Eindrucks
nicht erwehren, als sei bereits eingetreten, was Christoph Rolle und
Jürgen Vogt geradezu neo-apokalyptisch im Kontext der Frage nach
wissenschaftlichem Nachwuchs im Fach beschreiben: „Wer
ist eigentlich in Zukunft noch imstande, überlebenswichtige
wissenschaftliche Arbeiten wie die „Bastian-Studie“
durchzuführen? (...) Und, so müsste man noch ergänzen,
wer ist eigentlich in Zukunft noch in der Lage, wissenschaftliche
Arbeiten wie die „Bastian-Studie“2 sachkundig
zu diskutieren oder gar zu kritisieren?“3
Kritik
ist kein leichtes Unterfangen, aber auf jeden Fall sollte sie das
Gegenteil von Destruktion4 sein.
Und Kritik setzt nicht nur fachliche Kompetenz, sondern mehr
noch hohe Sensibilität für die Entscheidungen derer voraus,
die sich über viele Jahre hinweg in ein Forschungsvorhaben
investierten. Kritik bedeutet also in erster Stufe eine Sache in
ihren innerlichsten Zusammenhängen sehen, sodann eine Sache aus
ihrem eigenen Geist zu begreifen und darzustellen. „Bildung ist
da vorhanden, wo einer die Gedanken eines anderen, auch wenn er sie
nicht teilt, zu verstehen sucht“ (Hegel). Sachlich beurteilen-
ja, brüsk verurteilen – nein! Letztlich soll Kritik der
Sache und ihrem Erkenntnisfortschritt dienen und nicht der
Selbstdarstellung eines Rezensenten. Hier ist prinzipiell nicht der
Ort, die Seriosität einiger Kritik(en) zu erörtern, es wäre
im Übrigen ein mühsames und vielleicht nach Rechtfertigung
heischendes Geschäft, das selbst bei besten Gegenargumenten
nicht überzeugen würde. Sinn dieses Beitrages ist nicht in
erster Linie persönliche Verteidigung, sondern reflexive
Auseinandersetzung mit Reaktionen auf unsere Studie als Teil eines
lebendigen Wissenschaftsbetriebes. Ein ernstzunehmender
methodologischer Diskurs der Studie fehlt bis heute, lediglich der
Beitrag von E. Vanecek5
geht in die richtige Richtung.
Von
Schlagzeilen, Vorurteilen und Käseduft
Es
waren Inhalt und Art der Kritik, die bisweilen den Eindruck
hinterließen, dass die Studie offensichtlich nicht angemessen
gelesen worden war6 und
sich so mancher Kommentar wohl aus der bewusst
populärwissenschaftlich geschriebenen Taschenbuchfassung7 oder
gar nur aus Presse-Berichten und deren Schlagzeilen speiste. So gab es Monita,
die uns Forschern schlicht unterstellt wurden (u.a.
Bastian wolle den Musikunterricht einzig aus den Transferleistungen
des Faches legitimieren, Musik sei doch nur um ihrer selbst willen zu
unterrichten). Diese Behauptung war uns unverständlich, waren
doch einschlägige Kapitel der Studie (z.B. 1. Zu
Selbstverständnis und fachlichem Stellenwert der Studie, S.
25-31) um Klärung unserer ästhetischen Position bemüht.
Dort wird der Vorrang der Musik als eigenes, primäres, autonomes
und durch nichts anderes zu ersetzendes Sachziel ausdrücklich
begründet. Das Fatalistische in der Diskussion war, dass die
gegen die Studie ins Feld geschossenen Argumente teils auch unsere
Argumente waren. Was unsere Kritiker uns vorwarfen, was sie als
Defizit oder Verschiebung entdeckt zu haben glaubten, darauf waren
wir bereits aufklärend in der Studie selbst eingegangen –
mag sein oder offensichtlich, nicht immer unmissverständlich
genug.
Eine
weitere Irritation: Bisweilen hatte ich in der Rezeptionsgeschichte
unserer Studie den Eindruck, als machten sich manche Kritiker mehr
Gedanken um die Berechtigung eines statistischen Gammaleins oder um
eine angeblich so gewagte Über-Interpretation in unserer Studie
als dass der eine oder andere Experte sich Sorgen um den
katastrophalen Zustand von Musikunterricht in unserem Lande machte.
Die Proportionen geistiger Anstrengungen für sinnvolle Ziele
schienen mir im Fach bisweilen aus den Fugen geraten. Eine Studie,
die bildungspolitisch motiviert war, geriet stärker in das
Kreuzfeuer der Kritik als die Misere einer deutschen Bildungspolitik
ohne Musik. Dies mochte für manche Politiker ein willkommener
Anlass sein, sich weiterhin oder gar noch stärker als bisher aus
der Verantwortung zu stehlen mit Verweis auf notorische
Bedenkenträger, die das Design der Studie und Wirkungen der
Musikerziehung in Frage stellten.
Überrascht
hat mich als Projektleiter die enorme Diskrepanz von Zeit- und
Kräfteinvestition in eine mit Planung, Durchführung und
Auswertung nahezu zehnjährige Langzeitforschung mit zahlreichen
selbst entwickelten, informellen und halbstandardisierten, neu
erprobten Testverfahren auf der einen und der teils oberflächlichen
Kritiken auf der anderen Seite.8
Forschungsethisch gesagt: Ein 10 Jahre dauerndes Forschungsprojekt
durfte detailliertere und differenziertere Rezeption erwarten als wir
sie lesen konnten.
Was die
Kritik im Allgemeinen betrifft: Es ist zweifellos leichter, vom
Schreibtisch aus ein paar Schlagzeilen in den PC zu stanzen als sechs
Jahre intensivste Feldforschung zu betreiben. Unberührt blieb
ich von nebulösen Wortschwaden von Musik-Journalisten aus
irgendeiner Redaktionsstube: Mozart oder Molotow (DER SPIEGEL)…
Musik macht klug (DIE ZEIT)… Wer singt, prügelt nicht
(DIE SÜDDEUTSCHE)… DIE BASTIAN-FALLE (NMZ). Obwohl dem
Autor beim ersten großen öffentlichen Interview in DIE
ZEIT9 vom
Interviewpartner Claus Spahn zugesagt wurde, alles zu tun, die
Schlagzeile „Musik macht klug“ zu vermeiden, wurde ich
kurz darauf mit ihr konfrontiert. Die Geister, die der Autor rief,
wurde er nicht mehr los. Und es wurde zunehmend anstrengend, „sich
gegen seine Liebhaber zu verteidigen“(Adorno). Meine
Distanzierung von den Schlagzeilen der Medien10,
mein Verweis auf den Etikettenschwindel bis hin zur Ablehnung der
Morsezeile „Musik macht intelligent“ auf dem Taschenbuch
als Aktion musikwirtschaftlicher Verbände, gegen die der Autor
bis zuletzt sich im Verlag gewehrt hat, wurden kaum wahrgenommen. Mit
solchen „Kritiken“ werde ich mich hier nicht
auseinandersetzen. Es lohnt die Zeile, ja das Wort nicht, weil
derartige Stereotypen nicht korrigierbar sind und nur des
wohlgefälligen Moments wegen geschrieben sind. Vorurteile halten
sich gegen bessere Einsicht länger als jeder Käse- oder
Chanel-Duft. Manche Kritik an
der Studie basierte offensichtlich auf Missverständnissen, auf
Fehldeutungen oder auf von uns nicht intendierten Ansprüchen an
die Studie. Mit diesen Rezensionen wollen wir uns auseinandersetzen,
auch um den Erkenntnisfortschritt ein Stückweit voranzutreiben.
Zur
Vorsicht im Umgang mit empirischen Forschungsbefunden
Es
ist trivial, aber offensichtlich nicht überflüssig,
zunächst darauf hinzuweisen, dass es "die" Wirkung
"der" Musik auf "den" Menschen a priori nicht
gibt. Jede Verabsolutierung im konkretisierenden Artikel ist ein
hypothetisches Konstrukt, das die Komplexität der empirischen
Wirklichkeit kaschiert. Methodologisch gesprochen: Empirische
Forschung kann allgemeine Probleme immer nur an einer begrenzten
Stichprobe in einem spezifischen soziokulturellen Kontext mit
ausgewählten Methoden für einen bestimmten Zeitraum
untersuchen. Und dieser Forschungsanspruch ist hoch genug, will man
ihn angemessen operationalisieren.
Musik
und Intelligenz: eine pressewirksame - aber überbewertete
Korrelation
Zum
Zusammenhang von Musik und Intelligenz darf ich zunächst
feststellen, dass diesbezügliche Befunde in der Studie
differenzierter und vorsichtiger interpretiert sind, als sie im
platt-griffigen „Musik macht klug“- Journalismus
reproduziert sind. Fern jeder Pauschalisierung und Generalisierung
kann ich bilanzieren: Schüler im Alter zwischen 6 und 12 Jahren,
die eine erweiterte Musikerziehung nach der Art des Berliner
Rahmenplans (2std. Fachunterricht Musik pro Woche + Lernen eines
Instrumentes in der Schule + Ensemblemusizieren) erlebten, steigerten
nach etwas mehr als drei Jahren ihren IQ-Wert (errechnet aus einem
kulturunabhängigen Intelligenztest, etwa dem
Cattell-Faire-Intelligence-Test / CFT) signifikant deutlicher als
Kinder ohne dieses Musik-Treatment. Es gibt somit einen positiven
Zusammenhang zwischen Lernprozessen im Musikunterricht und der
Förderung kognitiver Fähigkeiten, wie sie ein bestimmter
IQ-Test abverlangt. Damit wird zugleich betont, dass die (im
Adaptiven Intelligenz Diagnostikum sogar nur zeitlich befristeten)
positiven Intelligenzveränderungen stärker abhängig
sind von der Art der Tests als von Wirkungen der Musikerziehung.
Leider wurde uns sogar die Behauptung eines Kausalzusammenhangs
zwischen Intelligenz und Musikalität unterstellt.
Keine
Rezension vergab eine Zeile für unsere methodenkrititischen
Auslassungen zur Validität, Objektivität und Reliabilität
vorliegender IQ-Tests und für meine Forderung nach neuen Tests,
in die die Konstrukte „Intelligenz“ und „Musikalität“
Eingang finden müssten. Dass die Korrelationen zwischen
Intelligenz und musikalischer Begabung nicht höher oder
Wirkungen von Musik(erziehung) nicht deutlicher ausfallen, wirft ein
prinzipielles Problem in der theoretischen Analyse des Zusammenhangs
zwischen Intelligenz und Musikalität auf. Es ist nämlich
grundsätzlich zu fragen, welche Teilfähigkeiten des
Konstruktes "Intelligenz" mit welchen Teilkomponenten der
"Musikalität" übereinstimmen, vor allem auch,
welche dieser Komponenten als meßbare Größen in die
diversen Tests eingehen. Zu vermuten ist, dass "musikalische"
Fähigkeiten wie (akustische) Mustererkennung,
Gestaltwahrnehmung, akustisches Gedächtnis, Kreativität,
akustisches Vorstellungsvermögen in den herkömmlichen
Intelligenztests (auch dem CFT) überhaupt keine Rolle spielen,
weil diese überwiegend mit non-verbalem, visuell-bildlichem
Material arbeiten. Insbesonders ist Kreativität mit ihren
Merkmalen Originalität, Flexibilität, Ideenproduktion usw.
durch traditionelle IQ-Tests kaum erfaßt worden. Daher ist in
der Frage nach möglichen Korrelationen zwischen Intelligenz- und
Musikalitätstests nur ein Korrelationsschluss erlaubt etwa nach
dem Schema: Wer gut
Rechenaufgaben löst, hat auch eine gute Raumvorstellung.
Viel wichtiger und interessanter wäre es, wenn man in der
künftigen Testforschung die Konstrukte "Musikalität"
und "Intelligenz" theoretisch genauer analysierte,
definierte und ggf. neu operationalisierte und konsequenterweise
"Musikalität" als Teilaspekt intelligenten Verhaltens
in entsprechenden Intelligenztests konzeptualisieren würde.
Dieser Grundsatzfragen sollten wir uns dringend annehmen, um zu
valideren und aussagekräftigeren Korrelationen zwischen beiden
Variablen zu finden.
Das
angebliche Fehlen eines Mehrkontrollgruppendesigns
Eine
beharrlich reproduzierte Kritik richtete sich auf das angebliche
Fehlen eines Kontrollgruppendesigns mit ,fach- verschiedenen'
Substichproben (sog. Mehrkontroll-Gruppenplan). So Altenmüllers
wiederholte Behauptung, die sich nach ihm viele ungeprüft zu
eigen machten und kolportierten: ,Das Design der Studie war
fehlerhaft, denn eine echte Kontrollgruppe, die z.B. in einem anderen
Fach, etwa Werken oder Malen eine entsprechende Mehrzuwendung erfuhr,
fehlte“11.
Der Fehler liegt nun aber nicht im Design, sondern in Altenmüllers
Lektüre. Bei genauem Nachlesen auf den S. 188 und 189 der Studie
2000 kann sich jeder von unterschiedlichen Schwerpunkten der
Kontrollklassen überzeugen: Die Kontrollgruppe Hansa-Grundschule
ist eine sprachenbetonte Grundschule (Französisch und Englisch
als Fächer), die Kontrollgruppe Heinrich-Seidel-Grundschule hat
eine Sportbetonung. Beide Kontrollklassen entsprachen mit ihren
jeweiligen Schwerpunkten „Sprachen“ und „Sport“
der Forderung nach einem Mehrgruppenplan. Unser Design war also ein
fächererweitertes, wenn auch im Blick auf die Probandenzahlen in
sehr begrenztem Rahmen. Und dies war der Grund dafür, warum ich
die Ergebnisse in Abhängigkeit vom Fach Sport und Sprachen nicht
veröffentlicht habe. Dies verboten die zu kleinen Stichproben,
zumal wenn entsprechende Negativbefunde womöglich leichtfertig
zu einer öffentlichen Abwertung dieser Fächer geführt
hätten. Hier nur ein Ergebnis der internen Auswertungen: Die
sozialen Kompetenzen unter den Schülern waren am wenigsten
ausgeprägt in der sportbetonten Grundschule, also ausgerechnet
im Lobby-Fach Sport.
Ich
will bei einigen theoretischen und praktischen Argumenten zum
Mehrkontroll-gruppenplan bleiben. Was soll Forschung mit einem
fach-divergierenden Kontrollgruppendesign im Ergebnis bringen? Etwa,
dass Latein weniger und Mathematik vielleicht andere Transfereffekte
als Musik generiert? Sollten dann die Stundenzahlen der Fächer
begrenzt oder das eine oder andere Fach ganz abgeschafft werden?
Wirkungen verschiedener Fächer zu vergleichen oder sie gar
gegeneinander auszuspielen würde eine gefährliche
Fächerkonkurrenzdebatte auslösen!
Was
schon in der Theorie als höchst fragwürdig erscheint, ist
aber in praxi noch problematischer. Die einzelnen Fächer (wie
viele sollten es denn sein?) müssten zunächst
Grundlagenforschung betreiben, z.B. ihre Fachstruktur durchleuchten
(was ist "die“ Mathematik, „die“ Chemie usw.),
sodann müsste man fächerspezifische Transfer-Arten
annehmen, die man miteinander gar nicht vergleichen kann. Auch ließe
sich diese fächerübergreifende Grundlagenforschung nicht
ohne ein interdisziplinär besetztes Forscherteam umsetzen. Denn
wer wollte als einzelner Forscher sich die Kompetenz anmaßen,
Treatments für die verschiedenen Fächer zu entwerfen?
Laborforscher, die mit klein(st)en Stichproben operieren, können
ungeniert fordern, ohne sich der Theorie schuldidaktischer Probleme
und der Mühsal praktischer Feldforschung stellen zu müssen.
Forscher-Empathie
in Modellklassen als effekte-produzierende Störvariable
Eine
Kritik an der Studie lautet, dass sie lediglich nachweise, dass
Schüler mit erhöhter Betreuung sich sozial und
intellektuell besser entwickeln als Schüler, denen diese
Betreuung nicht zuteil wird, jedoch nicht zwangsläufig belege,
dass der inhaltliche Gegenstand dieser Betreuung diese bessere
Entwicklung verursache.
Es
besteht kein Anlass zur Wiederholung: Ich habe mich ausführlich
zu Hawthorne- und John Henry-Effekten in der experimentellen
(Unterrichts)Forschung geäußert. Grundsätzlicher
gefragt: Wie wollte man diesen Zusammenhang von emotionaler Zuwendung
und fachlichem Einfluss auseinander dividieren? Insofern ist die
Frage rein akademisch, auf die es keine eindeutige Antwort geben
kann, zumal schon zu viele unkontrollierbare Störfaktoren in der
Faktorenkomplexion „Unterricht“ (Winnefeld) selbst
liegen. Wir kennen dieses Phänomen der sozialen und
intellektuellen Leistungssteigerung durch eine besondere Empathie im
übrigen schon lange als „Pygmalion“-Effekt im
Unterricht. Schüler, die eine starke positive Zuwendung durch
den Lehrer erfahren, entwickeln sich besser als solche ohne diese
oder gar eine solche mit Ablehnung. Die Ergebnisse dieser von
Rosenthal und Jakobsen (1968) veröffentlichten Studie12 sind
in Methodik und Interpretation wiederholt kritisiert worden. Bekannter noch ist
dieser Zusammenhang von Verhaltensweisen des
Schülers in Abhängigkeit von Erwartungen, Zuwendungen und
Vorurteilen des Lehrers als Self-fulfilling-Prophecy im Bereich der
Lehrer-Schüler-Interaktionen. Für unsere Studie kann ich
guten Gewissens bilanzieren, dass die Schüler der Kontrollgruppe
die gleiche emotionale Sympathie und Aufmerksamkeit von ihren Lehrern
wie uns Forschern erfahren haben wie die Schüler der
Musikklassen, spürbar an den freudigen Begrüßungsszenen,
wenn wir wieder zum Testen in die Kontrollklassen kamen. Von daher
sind die positiven Transfer-Effekte des Musiklernens wohl kaum auf
das Maß der emotionalen Zuwendung zurückzuführen.
Man
kann als weitere Kritik an der Studie nachlesen, dass auch
zusätzliche Sport- oder Kunstförderung ähnliche
Ergebnisse zeitigen könnten wie eine zusätzliche
musikalische Förderung. Daran zweifle ich nicht einen
Augenblick. Nur war dieser fachfremde Wirkungsnachweis nicht in
meinem Fach- und Forschungsinteresse.
Die
in Rezensionen häufig vergessenen Ergebnisse
Ich
finde es im Interesse unseres Faches höchst bedauerlich, dass
die Vielzahl der empirischen Ergebnisse der Studie etwa zur
musikalischen Begabung Sechs- und Siebenjähriger sowie zu deren
Entwicklung bis zum 12. Lebensjahr (als Beitrag zur
Begabungsforschung im Grundschulalter), zu Konzentrationsleistungen,
zu Angstgefühlen und emotionaler Labilität, zur
(musikalischen) Kreativität und zum schöpferischen Denken,
zur Entwicklung des Selbstwertgefühls von Kindern, zu den
allgemeinen Schulleistungen in sog. Hauptfächern so gut wie
nicht zur Kenntnis genommen wurden und im Schatten griffiger
Intelligenz-Schlagzeilen verkümmerten. Auch die ausführlichen
forschungsmethodischen und methodologischen Überlegungen als
Beitrag zur Forschungsförderung in der Musikpädagogik
traten weitgehend in den Hintergrund.
Der
Weg bleibt das Ziel
Was
war eigentlich unser Ziel? Wir haben eine Studie in zehnjähriger
Forschungsarbeit erstellt und mit erheblichem logistischen Aufwand
betrieben, um möglichst viele Facetten der Auswirkungen von
erweitertem Musikunterricht an Grundschulen beizukommen. Unsere
Motivation war ursprünglich die Einsicht, dass Kinder natürliche
musikalische Begabungen besitzen, die möglichst individuell
(z.B. im Erlernen eines Instrumentes) gefördert werden sollten.
Danach sollte die Wirkung dieser besonderen Förderung auf die
Entwicklung dieser Kinder untersucht werden. Diese Modell-Studie
nähert sich dem Ideal musikalischer Förderung und deren
Evaluation, doch sind gewisse Abstriche schon methodisch
unvermeidlich. Das bringt beobachtete Wirkungen umso mehr zur
Geltung, da sie ja keineswegs eine ideale Welt widerspiegeln, sondern
einen Modellversuch mit allen Vorteilen für die Kinder, aber
auch Problemen. Wir können nur ahnen, was wäre, wenn
wirklich jedes Kind optimal gefördert werden könnte. Doch
das ist leider nicht die Realität. Der Weg bleibt das Ziel.
Mit
bildungspolitischer Fragestellung und Motivation habe ich prüfen
und ggf. nachweisen wollen, was Kindern in ihrer
Persönlichkeitsentwicklung entgehen kann, wenn der Staat sich
vor Musik oder besser noch vor einer erweiterten Musikerziehung
drückt. Was ist die Folge, wenn Kinder "tat-sächlich"
mit Musik umgehen und wenn nicht? Damit möge künftig auch
die stereotype Unterstellung entfallen, die Studie wolle Musik in den
allgemein bildenden Schulen primär über Transfereffekte
legitimieren. Wer dies behauptet, hat die Studie nicht gelesen. So
hilfreich Musik auch für das Humanum13 in
unserer verhärteten Gesellschaft sein kann, die Ergebnisse
dürfen uns nicht dazu verleiten, Musikunterricht seiner
fachlichen-idiomatischen-ästhetischen Sinngebung und Zielsetzung
zu berauben. Gerade dadurch wirkt Musikerziehung ja so wie sie wirkt!
Musikerziehung soll zu allererst die Freude der Kinder an der Musik
fördern, als der Freude am ästhetisch Schönen, am
Spiel, am kreativen Selbsterleben eben in den Spiel-Räumen der
Musik. Wir haben als Musikerzieher unsere Kinder zu dieser Freude an
der Musik zu „begaben“.
Dass
wir den Musikunterricht in den Schulen nicht für irgendwelche
Transfereffekte missbrauchen dürfen, schließt aber nicht
aus, in bildungspolitischen Argumentationen selbstbewusst auf diese
zu verweisen und die öffentliche Musikerziehung aus dem Odium
der Zeitverschwendung und der spaßmachenden Unterhaltung zu
befreien.
Die
Hauptergebnisse der Studie zeigen nur einen Teil der "Wahrheit",
wenngleich sich darin die am besten greifbaren Befunde sammeln
lassen. Wichtige Beobachtungen liegen unter der Oberfläche
dieser Haupteffekte und sind teilweise am besten qualitativ zu
fassen. Daher ist es letztlich so wichtig, auch das zu beachten, was
betroffene Schüler, Lehrer und Eltern zu sagen hatten. Und
letztlich ist es die Summe all der quantitativen und qualitativen
Ergebnisse, die dann – und das ist aussergewöhnlich -
politische Wirkung gezeigt haben und immer noch zeigen.14
Der
Rezensent ist - wenn auch nicht in der schulischen Unterrichtspraxis
- so doch in empirischer Forschung ausgewiesen. Ich will auf einige
seiner Kritikpunkte eingehen, auch um zu zeigen, wie formalistisch
und subjektivistisch er kritisiert hat.
Formalismus:
Herbert Bruhn kritisiert die einleitenden Aphorismen zu Wirkungen
der Musik, die nach Absicht des Autors lediglich eine
feuilletonistische Einstimmung in die Bandbreite von Meinungen zu
positiven Transfers aber auch zu Gefahren von Musikeinflüssen
bewirken sollten. Die Sache selbst braucht keine Aphorismen. Aber
als Spannungsinduktion für den Leser, was sich an den zitierten
Wirkungen in der Studie wohl nachweisen ließe und was nicht,
hatten sie ihre sinnvolle Funktion; auch um an wenigen
Auswahlzitaten deutlich zu machen, welche negativen Effekte der
Umgang mit Musik haben kann.
Unklar
bleibt mir, warum ich – nach Bruhn - eine kluge Frau wie die
seinerzeitige Herausgeberin von DIE ZEIT, Gräfin M. von
Dönhoff, nicht zitieren darf, wenn sie zu Fragen der Gewalt
zeitkritisch wie kompetent Stellung bezogen hat. Bruhn lässt
offensichtlich im Ghetto eines formalistischen Denkens nur
Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Studien als „reine“
Wissenschaftstexte zu. Studien und ihre Hypothesen speisen sich aber
auch aus den Besenkammern des Alltags und nicht nur aus den
Spiegelsälen der Forschungsschlösser. Impulse und
Ansichten aus dem gelebten Leben können der Forschung und der
Interpretation ihrer Ergebnisse nur willkommen sein.
Formalismus
findet sich auch in der Kritik Bruhns zum Vorwort der "Geldgeberin"
BMBF (offensichtlich ein Frustbegriff des Rezensenten) sowie über
Danksagungen. Beides sind mir Gebote des Anstandes und ganz
selbstverständlich am Ende einer material und personal
aufwendigen Förderzeit.
Bruhn
empfiehlt uns methodische Alternativen, so etwa LISREL als
Strukturgleichungsmodell - als hätte ich darüber nicht
nachgedacht. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Psychologie der
Universität Frankfurt (Forschungsmethodik und
Forschungsmethodologie) und ständige persönliche
Beratungskontakte zu einem ausgewiesenen Experten für
methodische Forschungsfragen (Prof. Dr. Wittmann, Universität
Mannheim), haben deutlich gemacht, dass sich LISREL angesichts
unseres Designs und eines enormen Datencorpus’ (über 1
Mio Daten) als nicht sinnvoll angeboten hat. Ich habe trotz
ursprünglicher Intention wieder Abstand von diesem Verfahren
genommen. Bruhns Empfehlung suggeriert, dass er selbst wohl von
einem solchen Verfahren Kenntnis hat, dass ihm aber die Probleme des
Verfahrens im Kontext unserer Studie nicht bewusst waren, ja gar
nicht bewusst sein konnten. Dennoch urteilt er.
Bruhn
kritisiert, dass wir die Qualität des Musikunterrichtes an den
Projektschulen nicht evaluiert haben. Hier zeigt sich, dass Bruhn
die Probleme von Forschung in der Unterrichtspraxis nicht kennt
(z.B. die Empfindlichkeit der Lehrer gegenüber externer
Bewertung) und somit die Mühen eines Schulalltags und einer
praxiseingetauchten Forschung nicht annähernd bewerten kann.
Und was bitte ist „guter“ Unterricht? Man stelle sich
einmal vor: Forscher bewerten die Qualität von Unterricht - das
wäre das Ende der Mitarbeitsbereitschaft aller Lehrer und damit
das Ende des Projektes gewesen. Bruhn'sche Gedankenexperimente sind
schul- und weltfremd, weit weg von Menschenkenntnis und
Alltagspsychologie.
In
diesen Kontext passt der Vorwurf der zu kleinen "Kontrollgruppe".
Kann sich Bruhn auch nur annähernd ausmalen, welche
Überzeugungsmühen es gekostet hat, in Berlin auch nur zwei
Kontrollgruppen für zunächst 3 und dann insgesamt 6 Jahre
(!) zu gewinnen. Es ist eine undankbare Aufgabe von Kontrollgruppen,
sich für die Messung von Effekten in einer Modellgruppe zur
Verfügung zu stellen. Dass wir dennoch zwei Klassen als
Kontrollgruppe fanden, war ein hoher strategischer Aufwand und
Erfolg, der nur dank der Unterstützung durch den Berliner Senat
für Schule, durch den Berliner Datenschutzbeauftragten, durch
die Lehrer der Schulen und vielleicht auch durch unser
Verhandlungsgeschick in heiß diskutierten Elternversammlungen
erreicht werden konnte.
Dass
Bruhn unsere Forschungsergebnisse "deutlich überinterpretiert"
sieht, kann er so bewerten. Dass er aber diese Kritik generalisiert
in der Feststellung: "Die Seriosität 'der' (Hervorhebung
Bastian) wissenschaftlichen Zitate selbst ist zudem nicht
gewährleistet" disqualifiziert ihn selbst.
Als
projektverantwortlicher Autor kann ich dispositional keine
Unübersichtlichkeit in der Anlage der Studie erkennen, auch
keine Vermischung von theoretischen und methodischen Ausführungen,
wie Bruhn sie bemängelt. Die Gliederung der Studie folgt
üblichen empirischen Standards, gelegentliche Variationen sind
gerade das Besondere, um nicht in routinierten Schemata zu
erstarren. Die Kompliziertheit unserer Studie und die
Differenziertheit unserer Resultate spiegeln sich im Aufbau des
Buches. Natürlich ist es nicht leicht, bei so vielen
Einzelbefunden den Überblick zu behalten. Man kann es aber auch
so sehen, dass aus dem Dickicht der Beziehungen zwischen den
zahlreichen Variablen etwas anderes hervortritt, als die
herbeigesehnten einfachen Kausalitäten. Ist es nur eine
Geschmacksfrage, ob "systemische Vernetzung" in "alles
hängt mit allem zusammen" gewendet werden kann?
Interpretation
von Daten geht für mich prinzipiell über eine bloße
Deskription hinaus. Bruhn verbietet diese apodiktisch. Ich habe ein
Forscherleben lang nie nur beschreiben wollen (wie langweilig!), was
ist, sondern ich habe versucht zu erklären, ja auch zu bewerten
und gängige Praxis zu verändern, ganz im Sinne eines
kritischen Denkens. Hier habe ich einen grundsätzlichen
wissenschaftspragmatischen Dissens zu Bruhn. "Interpretationen"
sind es, die manche Veränderung in der politischen Landschaft
bewirkt haben und noch bewirken werden. Dies gilt auch für
unsere Qualifizierung von Leistungen etwa bei den
Schulleistungstests in den Hauptfächern. Die qualitative
Gruppierung in Gruppen (unterdurchschnittlich - durchschnittlich –
überdurch-schnittlich) scheint mir geradezu geeignet, die in
der empirischen Forschung üblichen Mittelwertsberechnungen mit
ihren gleichmacherischen Effekten zu vermeiden. Gegen diese
Intention werden mir von Bruhn Nivellierungen unterstellt. Wer meine
Forschungsarbeiten kennt, der weiß, dass das Individuum in
seiner sozialpsychologischen und soziokulturellen Bedingtheit stets
im Fokus meines Erkenntnisinteresses stand und ich dafür
geeignete Erhebungsverfahren und statistische Analyseverfahren
eingesetzt habe (z.B. die Methode der Clusteranalyse bereits in
meiner Studie „Neue Musik im Schülerurteil, Mainz: Schott
1980).
Die
Kritik, wir hätten absichtsvoll schwierig geschrieben bzw.
schwierige mathematische Formeln integriert, um Kritik vorzubeugen,
bedarf keines Kommentars.
In
dieses Bild passen die Mäkeleien an Erklärungen zu
statistischen Kenn- und Prüfgrößen. Sie waren von
den Autoren nicht vorgesehen, sondern vielmehr vom Verlag für
unkundige Leser erwünscht. Eine Würdigung des methodischen
Apparates anstatt einer manifesten pauschalen Verunglimpfung des
Methodenpluralismus möchte ich mir in einer fairen, auf
Objektivität bedachten Rezension schon eher vorstellen. Ich
erinnere mich, wie viel alljährliche Arbeit allein die
Entwicklung und Evaluation von eigenen Schulleistungstests durch
Mitarbeiter Adam Kormann in den Hauptfächern Deutsch,
Mathematik, Englisch, Geometrie für jede Schulklasse bereitet
hat.
Eines
ist sicher richtig an Bruhns Rezension: Es war ihm – so Bruhn
selbst- "unmöglich, den Überblick zu behalten".
Ich möchte mit einem Gedanken von Egon Friedell in seinen Essays
in „Vom Schaltwerk der Gedanken“ ganz allgemein
schließen ohne Bruhn hier im Visier zu haben: „Eine Sache
heruntermachen ist das müheloseste und zugleich dankbarste
Geschäft, dem ein Mensch sich hingeben kann; er hat es leicht,
auf diesem Gebiet Erfolge zu erzielen, denn er findet in der unserer
Spezies nun einmal eigentümlichen Obtrektationssucht einen stets
hilfreichen Bundesgenossen“. 16
Freilich
gibt es sie auch: Rezensionen mit Anspruch und Niveau, die in
sachlichem und offenem Diskurs nachfragen, sich in das
Gedankengebäude der Forscher einfühlen, Ergebnisse an den
Zielen einer Studie messen, die alternativ und weiter denken, usw.
usw. Michael Dartsch ist eine solche gelungen17,
weil sie Entscheidungen der Forscher mitdenkt und vorurteilsfrei
reflektiert, auch die kritischen Anmerkungen von Maria Spychiger18 sind
konstitutiv und lesenswert, weil sie aus eigener Erfahrung um die Probleme und
die Kompliziertheit der Transferforschung weiß
und diese valider einschätzen kann.
Epilog
Die
Studie ‚Musikerziehung und ihre Wirkung’ trifft auch
einen Nerv des gesellschaftspolitischen Gewissens und des Gefühls,
welche kulturellen Werte wir uns eigentlich leisten wollen. In einer
durch und durch materialistischen Gesellschaft sind kulturelle Werte
in einer Weise marginalisiert, so dass ein Rechtfertigungsdruck nicht
zu leugnen ist. Jedem Kritiker sollte klar sein, dass Musik und
andere Künste nicht mehr allein aus einer Selbstverständlichkeit
heraus legitimiert werden können. Idealismus in diesem Sinne in
Ehren, doch es wird auch ein Pragmatismus benötigt, wenn die
idealistischen Argumentationen versagen und einmal mehr der Musik-
und Kunstunterricht gekürzt wird. Es sind ja ganze Bände
mit teils klugen, teils schwachsinnigen Argumenten zu unserer Studie
geschrieben worden, ja eine Vielzahl von Wissenschaftlichen
Hausarbeiten, von Magister- und Diplomarbeiten, angeblich – mir
nicht vorstellbar – sogar eine Dissertation, die die so
genannte „Bastian“-Studie zum Gegenstand fachlichen
Diskurses haben. „Vielmehr entlarven sich jene Kritiker selbst
als weltfremd, die einerseits über die Inflation der
Lebensmittelpreise besorgt sind, andererseits aber nicht einsehen
können oder wollen, dass auch Wirkungen von kulturellen Werten
im Verhalten von Menschen sichtbar und messbar sein können.
Gerade in einem Neben- und Randfach wie die Musik mit ernsthaften
Überlebenssorgen sollte sich in besonderer Weise in der Frage
und in weiteren Forschungsprojekten engagieren, ob kulturelle Bildung
nicht messbare Effekte auf die Schulleistung von Kindern hat.
Letztlich bezahlen wir für alles – und da kommt
unweigerlich eine politische Diskussion ins Spiel darüber, was
wir uns leisten wollen. Oder sollen wir ohne Debatte hinnehmen, dass
sich z. B. das Land Rheinland-Pfalz am Fritz-Walter-Stadion mit
Millionenbürgschaften engagiert und gleichzeitig den Schülern
in den allgemein bildenden Schulen Schmalkost an Kunst und Musik
serviert?“19 Weitere
Beispiele für die Verschwendung öffentlicher Gelder
in kaum vorstellbaren Größenordnungen finden sich in den
Jahresberichten des Bundes der Steuerzahler. Ein Bruchteil des
jährlich verschwendeten Geldes würde genügen, um jedem
Kind in den Grundschulen das Lernen eines Instrumentes zu
ermöglichen. Und wenn Musiklehrer in den Grundschulen fehlen,
dann hat in aller Regel der Staat selbst durch eine falsche und
restriktive Hochschulpolitik zuvor dafür gesorgt. Dass zukünftig
zum Beispiel Musiklehrer aller Schularten an der Hochschule für
Musik in Frankfurt - wider alle fachliche Argumentationslogik gegen
einen fusionsbesessenen Präsidenten der Hochschule und einen an
der Musiklehrerausbildung uninteressierten Vizepräsidenten der
Universität - erfolgen wird, halte ich angesichts des
derzeitigen Kompetenz– und Personalmangels an der Frankfurter
Musikhochschule kurzfristig für eine gravierende
Fehlentscheidung, langfristig für eine Katastrophe in der
hessischen Musiklehrerausbildung und in Folge in der Praxis des
Musikunterrichts an Grund- und Hautschulen.
Das
Credo des Autors bleibt von allen Kritiken unbeeinflusst:
Selbstzweck, Wertfreiheit und Autonomie von Forschung sind
unantastbare Werte, doch Forschung sollte auch einen weitergehenden
Sinn haben: Sie soll der Gesellschaft dienen und politisch verwertbar
sein. (Zu) viele Kinder haben sozialbedingt keine Chance auf eine
qualifizierte Musikerziehung. Als Wissenschaftler und Forscher möchte
ich meiner Umgebung nicht die Chance geben, das akademische vom
politischen Engagement zu trennen. Im Dienste der Musik möchte
ich mich für eine kinder- und jugendfreundliche Bildungs- und
Kulturpolitik, eine Politik mit Musik, einsetzen.
Noch
unterstelle ich, dass auch meine Kritiker dies wollen. Doch sagen
diese Kritiker, wie das zu erreichen ist? Nein, viele sagen nur im
Negativen und manche in Sprechblasen, wie es angeblich nicht geht.
Und das ist genau der falsche Ansatz.
Die
Frage ist doch: Wie kann ich in einer Gesellschaft, in der Musik
soviel Zuneigung entgegen gebracht wird („Ohne Musik kann ich
nicht sein“), wie kann ich genau diesem Gefühl einen
angemessenen Rahmen bieten? Was kann die Schule dazu beitragen?
Sicherlich nicht alles, doch insofern deren Verantwortung gefragt
ist, werden Studien wie die Berlin-Studie eben benötigt wie
nichts anderes und sie ist in der Praxis draußen dankbar
aufgenommen worden, hat sie doch zum Renommee des Faches Musik und zu
neuem Selbstbewusstsein der Musiklehrer beigetragen.20
Es
ist die kleine Stimme der zehnjährigen Flötistin, die alles
auf den Punkt bringt. Ein Kind möchte musizieren und beansprucht
einen Freiraum dafür - und sie findet ihn nicht! Nicht mehr und
nicht weniger. Oder es ist die Frage der kleinen Petra an ihre
Lehrerin nach einer Ensembleprobe: Wie kommt es, dass wir nach dem
Musizieren immer so friedlich sind?
Dafür
lohnt es sich zu kämpfen und dafür haben wir soviel Aufwand
betrieben.
Anmerkungen:
1H.G.
Bastian (2000): Musikerziehung und ihre Wirkung. Eine Langzeitstudie
an Berliner Grundschulen, Mainz: Schott. Unter Mitarbeit von Adam
Kormann, Roland Hafen, Martin Koch; gefördert vom BMBF
2
Die
nominelle Fixierung der Studie als „Bastian-Studie“
bedaure ich sehr, denn mit Adam Kormann, Roland Hafen und Martin
Koch standen mir gleichermaßen engagierte Mitarbeiter zur
Seite, die es nicht verdient haben, im Schatten eines Namens zu
verblassen. Wir waren ein bestens eingespieltes Team, jeder einzelne
hatte seine besonderen Aufgaben und jeder hat damit auch seine
spezifischen Verdienste an der Studie. Eigentlich hätten wir
als Autorenkollektiv publizieren müssen, was aus verlegerischen
Gründen nicht gewünscht war.
3 J.
Vogt/ Chr. Rolle: Von Wollmilchsäuen in Käfighaltung.
Zum Problem des wissenschaftlichen Nachwuchses in der
Musikpädagogik, in: nmz,
6/2002,
S.55
4
Siehe
die Warnung von Heinz Antholz: Die Streitkultur wahren. Zum
Leserbrief von Ivo Csampai, nmz 6/2001, S. 12
5 E.
Vanecek: Was vermehrt vermehrter Musikunterricht?, in: Diskussion: Musikpädagogik
12/2001, S. 28-35
6 Ein
Paradebeispiel für eine Ansammlung nachweislicher
Falschaussagen ist die „Kritik“ von M. Saxer in: Üben
& Musizieren, 4/2000; vgl meine Replik in: 5/2000, S. 65
7 Hier
und da konnte man Kritik am Taschenbuch „Kinder optimal
fördern – mit Musik“ (2001) lesen. Doch Vorsicht:
Im Ghetto eitler Fachforschung, die sich an „autopoetischer
Semiotik“ geradezu manna-haft labt und das anerkennende
Schulterklopfen im Expertenkreis sucht. Damit allein erreicht man
die Menschen nicht. Um unserer Kinder und Schulen willen hat man
doch letztlich und zum Beispiel geforscht, also sollte die Botschaft
der Forschungsergebnisse auch dort ankommen., an der Basis, nämlich
bei Erziehern, Lehrern, Kindern und Jugendlichen, nicht zuletzt bei
politischen Entscheidungsträgern. Übrigens: Leicht zu
schreiben ist ein schweres Unterfangen, schweres Schreiben dagegen
ein leichtes. Dass das Taschenbuch angekommen ist, belegen nicht nur
die 4. Auflage und die Verkaufszahlen, sondern auch die
Übersetzungen (Stand 12/2007) in Dänemark, Holland,
Italien, England, Brasilien, China. Weitere Länder und Sprachen
sind in Planung.
9 DIE
ZEIT 15/2000: Musik macht klug. Im Gespräch mit Claus Spahn
10 Bastian,
Hans Günther (2001), „Die Substanz – vom
Etikettenschwindel verdeckt. Hans Günther Bastian über
seine Langzeitstudie zur musikalischen Bildung“, in: nmz, Jg.
50, Nr. 4, S. 1+8.
11 Jüngst in: Eckart Altenmüller (2006): Neuronale
Auswirkungen musikalischen Lernens im Kindes- und Jugendalter und
Transfereffekte auf Intelligenzleistungen, in: BMBF (Hg.): Macht
Mozart schlau? Die Förderung kognitiver Kompetenzen durch
Musik, Bonn, S. 67.
12 Rosenthal,
R., & Jacobson, L. (1968): Pygmalion
in the classroom. New
York: Holt, Rinehart, & Winston
13 Vgl.
Bastian, HG./ Kreutz, G. (Hg.)(2003): Musik und Humanität.
Interdisziplinäre Grundlagen für (musikalische) Erziehung
und Bildung, Schott: Mainz
14 Bildungspolitische
und fachpädagogische Wirkungen der Studie
sind nachlesbar auf der Link-Seite meiner Homepage: www.hgbastian.de
15 Bruhn,
Herbert (2001), „Hans Günther Bastian (2000).
Musik(erziehung) und ihre Wirkung. Eine Langzeitstudie an Berliner
Grundschulen.“, Rezension in: Macht Musik wirklich klüger?
– Musikalisches Lernen und Transfereffekte, hrsg. v. H.
Gembris, R.-D. Kraemer, G. Maas, Augsburg: Wißner (= Forum
Musikpädagogik, Bd. 44; Musikpädagogischer
Forschungsbericht, Bd. 8), S. 271-275
16 Egon
Friedell (2007): Vom Schaltwerk der Gedanken. Ausgewählte
Essays zu Geschichte, Politik, Philosophie, Religion, Theater und
Literatur (hrsg. von D. Keel und D. Kampa), Zürich: Diogenes,
S. 268
18 Spychiger,
Maria (2001a), „Was bewirkt Musik?“, in:
Macht Musik wirklich klüger? – Musikalisches Lernen und
Transfereffekte, hrsg. v. H. Gembris, R.-D. Kraemer, G. Maas,
Augsburg: Wißner (= Forum Musikpädagogik, Bd. 44;
Musikpädagogischer Forschungsbericht, Bd. 8), S. 13-37; dies.:
(2001b), „Antwort auf Hans Günther Bastian & Adam
Kormann ´Transfer im musikpädagogischen Diskurs´“,
in: Macht Musik wirklich klüger? – Musikalisches Lernen
und Transfereffekte, hrsg. v. H. Gembris, R.-D. Kraemer, G. Maas,
Augsburg: Wißner (= Forum Musikpädagogik, Bd. 44;
Musikpädagogischer Forschungsbericht, Bd. 8), S. 67-69.