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nmz-archiv
nmz 2008/03 | Seite 18
57. Jahrgang | März
Forum Musikpädagogik
Der Kanon-Krimi hängt in der Endlosschleife
Die Konrad-Adenauer-Stiftung antwortet auf die Diskussion um
ihr Grundsatzpapier
Was bisher geschah: Die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) veröffentlicht
2004 im Rahmen der Initiative „Bildung der Persönlichkeit“ ein
Konzept zur „Neuorientierung des Musikunterrichts“.
Darin werden in elf konsensfähigen Punkten vor allem eine
Stärkung des gemeinsamen Singens und Musizierens in Kindergarten,
Grundschule und Elternhaus sowie verschiedene konkrete Maßnahmen
zur Aufwertung und Verbesserung der Rahmenbedingungen des Faches
Musik in der Schule gefordert. Der Handlungsbedarf wird im Rahmen
eines historischen Abrisses unter anderem mit der Pluralität
von didaktischen Ansätzen begründet, die in den Lehrplänen
zu inhaltlichen und methodischen Freiheiten geführt haben,
die aus Sicht der KAS Beliebigkeit begünstigen. Die Autoren
der Studie ziehen den Schluss, dass „nur durch einen festgelegten
Kanon an Werken (…) diesen Gefahren begegnet werden (kann)“ und
entwerfen selbigen in der Absicht, Schülerinnen und Schüler
beim Erwerb ihrer kulturellen Identität sowie bei der Orientierung
in der Vielfalt einer medial geprägten Musik-landschaft zu
unterstützen.
Die Studie, insbesondere der angehängte Werkkanon, hat eine öffentlich
geführte Diskussion ausgelöst, die in der nmz, vor allem
aber in der 2006 erschienenen Publikation „Bildungsoffensive
Musikunterricht? Das Grundsatzpapier der Konrad-Adenauer-Stiftung
in der Diskussion“ dokumentiert ist (siehe unten stehende
Literaturliste). Darin werden von Hochschullehrern und Mitgliedern
des Arbeitskreises für Schulmusik (AfS) um den Musikpädagogen
Hermann J. Kaiser unter anderem folgende Punkte kritisiert:
die sehr verkürzte Darstellung der historischen Entwicklung
der musikdidaktischen Konzeptionen im 20. Jahrhundert sowie insgesamt
argumentationslogische Schwächen bei der Begründung des
Kanons,
der nicht zeitgemäße Rückgriff auf einen Werkkanon
als Bildungsinstrument,
die fragwürdigen Kriterien für
die Auswahl der einzelnen Werke des Kanons sowie die Abstufung
nach Schulformen,
die abendländische Kultur als ausschließliche
beziehungsweise ausschließende Norm,
die historisch-wissenschaftliche
Akzentuierung von Musik zu Ungunsten einer ästhetisch-praktischen
Erfahrung,
die im Widerspruch zu der von der KAS selbst formulierten
Zielvorstellung der „Bildung der Persönlichkeit“ stehenden
fehlenden Wertschätzung einer individuellen Aneignung von
Welt,
die fehlende Transparenz im Hinblick auf die Autoren und
Hintergründe
des Grundsatzpapiers,
die Verfolgung parteipolitischer Interessen.
In sieben Aufsätzen wird das Grundsatzpapier unter Berücksichtigung
verschiedenster Bezüge diskutiert. Die folgende Skizze kann
den komplexen inhaltlichen und argumentativen Details kaum gerecht
werden, soll aber einen kleinen Eindruck in die Vielfalt der Diskussionspunkte
geben. So bemängelt Dorothee Barth vor allem die fehlende Öffnung
des Kanons anderen Musikkulturen gegenüber. Frauke Heß zieht
die Argumentation um einen verbindlichen Literaturkanon vergleichend
hinzu und schließt anhand der Untersuchung des Basiskanons
für die Hauptschule auf möglicherweise angelegte Auswahlkriterien.
Hans Jünger fragt nach den Motiven und Absichten der an der
Initiative beteiligten Bildungspolitiker und Lehrer und problematisiert
die mit dem abgestuften Kanon einhergehende soziale Diskriminierung.
Hermann J. Kaiser beleuchtet den ideologischen Hintergrund der
Bildungsoffensive, kritisiert das der Studie zugrunde liegende
Menschenbild sowie die daraus gezogenen Konsequenzen für die
Erziehung und problematisiert den Bildungsbegriff im Kontext veränderter
Bedingungen musikalischen Lernens. Christian Rolle fächert
Vor- und Nachteile von input- und outputorientierten beziehungsweise
materialen und formalen Bildungsplänen auf und plädiert
für mehr Vertrauen in die Lehrkräfte sowie die Formulierung
von Prinzipien der Unterrichtsgestaltung, die Vielfalt und Zusammenhang
sichern. Jürgen Vogt fordert statt eines eindimensionalen
Werkkanons die Ausarbeitung eines komplexen und theoretisch wie
empirisch begründeten Kerncurriculums, während Christopher
Wallbaum abschließend den dem KAS-Papier zugrunde liegenden
Musikbegriff zu skizzieren versucht und kritisch diskutiert.
Kanon und Tradition
Auf diese Reflexion hat nun die Konrad-Adenauer-Stiftung unter
Herausgeberschaft von Jörg-Dieter Gauger und Hermann Wilske
ihrerseits mit einer Aufsatzsammlung reagiert. Diese erschien 2007 – um
die Verwirrung komplett zu machen – unter dem bis auf das
Fragezeichen am Ende gleichnamigen Titel wie die Diskussionsschrift
von Kaiser & Co. Als prominente Vorwortschreiber konnten Anne-Sophie
Mutter, Dietrich Fischer-Dieskau und Daniel Barenboim gewonnen
werden. Die schließen sich den unstrittigen Forderungen nach
mehr, früherer und aufbauender musikalischer Förderung
in Kindergarten, Elternhäusern und Schulen selbstverständlich
an. Die neue Publikation ist nicht nur als Antwort auf die Diskussionsschrift
gedacht, sondern damit soll gleichzeitig die „ursprüngliche
Konzeption des Jahres 2004 eine Erweiterung und Ausdifferenzierung
erfahren“ (Vorwort der Hg.). Hierfür kommen neben den
Herausgebern auch Vertreter des baden-württembergischen Kultusministeriums
und der baden-württembergischen Medien sowie Musikermediziner,
Musikwissenschaftler, Musikpädagogen und der Generalsekretär
des bayerischen Musikrates zu Wort.
Im Zentrum vieler Darstellungen steht nach wie vor die Notwendigkeit
der Tradierung der klassischen abendländischen Kultur. So
erläutert Hermann Wilske eingangs die musikpädagogischen
Strömungen nach 1968, die aus seiner Sicht zum „Niedergang
des Bildungsfachs Musik zu einem voraussetzungslosen Ausgleichsfach“ (S.
30) geführt haben, während Hermann Jung die Bedeutung
der Musikwissenschaft als geisteswissenschaftliche Disziplin im
Kontext der Schulmusik ausführt und die Kanonproblematik nur
am Rande als „Herausforderung“ und „Appell zur
Produktivität“ (S. 41) anspricht. Walter Scheuer diskutiert
sodann Perspektiven eines entwicklungsorientierten, aufbauenden
Musikunterrichts, betont jedoch die Notwendigkeit, „Musiktraditionen
der europäischen Kulturgeschichte zum zentralen Bestandteil
des Musikunterrichts zu machen“ (S. 53f.) und durch historisches
Denken und Wissen ein Bewusstsein für die eigene Kultur zu
entwickeln, anstatt „in interdisziplinären Vernetzungen
die Lösungen der Zukunft“ zu sehen (S. 56). Hermann
Wilske und Walter Pfohl plädieren mit Verweis auf die erfolgreiche
baden-württembergische Tradition für den Kanon. Pfohl
ruft dabei ausdrücklich zu einer möglichst großen
Einheitlichkeit im Denken und Handeln der Musikpädagogen auf,
um das Fach weiter zu profilieren, während Wilske weiter gegen
eine übertriebene Schülerorientierung polemisiert.
Hoffnungsschimmer
In der Diskussion um den Kanon finden sich aber in einigen Aufsätzen
differenziertere Sichtweisen sowie mehr auf Konsens ausgelegte
Argumentationen. Kai Martin legt nochmals Wert darauf, die Offenheit
des Kanons zu betonen, Matthias Wurster plädiert sogar für
das von Vogt vorgeschlagene Kerncurriculum. Die Musikermediziner
Claudia Spahn und Bernhard Richter formulieren: „Aktives
Musizieren hat ungleich größere gesundheitsfördernde
Effekte als passive Musikrezeption (…) Aus Sicht des Mediziners
ist es deswegen nicht so entscheidend, welche Musikwerke in einen
Kanon aufgenommen werden, sondern viel wichtiger ist die strukturierte,
regelmäßige und möglichst tägliche musikalische
Aktivität“ (S. 138f.). Jörg Riedlbauer, Generalsekretär
des bayerischen Musikrats, fordert schließlich dazu auf,
nach den Schnittmengen der unterschiedlichen Positionen zu suchen
und diese als Potenzial für einen zeitgemäßen Unterricht
zu nutzen (S. 143). Als Beispiele nennt er die elf eingangs erwähnten
Forderungen oder den Hinweis auf den Eigenwert der Musik jenseits
aller Transfereffekte. Das Problem des Kanons läge „im
Versuch, zu viel im Detail festlegen zu wollen (…) Sinnvoller
wäre es gewesen, statt der dezidierten Werkliste größere
Repertoiregruppen gebildet zu haben und dem Lehrer die Auswahl
zu überlassen“ (S. 149). Weiterhin sieht Riedlbauer
Christian Rolles Ansatz eines thematisch abwechslungsreichen Unterrichts
als tragfähig an.
Was diese Diskussion so schwierig macht, ist die Vermischung
von unstrittigen Statements mit teils polemischen, teils schwer
nachvollziehbaren
Thesen, Begründungen und Forderungen einer speziellen Interessensgemeinschaft.
Dadurch ergeben sich vielfältige berechtigte Angriffspunkte,
die der AfS kompromisslos aufgezeigt hat. Die Chance, dass sich
eine einflussreiche Stiftung der Problematik des Musikunterrichts
in der Schule annimmt, sollte dennoch nicht ungenutzt verstreichen.
Das haben sogar die prominenten Vorwortpaten erkannt. Bleibt zu
hoffen, dass die Verantwortlichen in Politik und Fachorganen die
Diskussionsbeiträge aller Beteiligten kritisch rezipieren
und entsprechend inhaltlich verantwortliche Entscheidungen treffen.
Was aber macht einstweilen die Musiklehrerin im ganz normalen Schulalltag?
Sie wird mit ihren Schülern den ein oder anderen Kanon gemeinsam
singen, musizieren, analysieren oder komponieren…