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nmz-archiv
nmz 2008/03 | Seite 19
57. Jahrgang | März
Hochschule
Hauptwerke eines Fortschrittlichen
Das vollständige Kammermusikwerk von Johannes Brahms an der
Leipziger Musikhochschule
„Kennen Sie Brahms?“ Unter diesem Motto in Anlehnung
an den Romantitel „Lieben Sie Brahms?“ von Françoise
Sagan lädt die Hochschule für Musik und Theater „Felix
Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig zu einem Zyklus von zehn Abenden
ein. Von Februar bis Dezember 2008 wird das komplette Kammermusikwerk
von Johannes Brahms aus Anlass seines 175. Geburtstages erklingen.
Das Vorhaben ist einmalig in der langen Geschichte der Hochschule
und vereint Studierende und Lehrende der Fachrichtungen Dirigieren/Korrepetition,
Klavier, Streichinstrumente und Blasinstrumente als Interpreten
in dieser ehrgeizigen Aufgabe. Die einzelnen Programme werden bereichert
durch Einführungsvorträge und Lesungen aus Briefen und
Zeitdokumenten. Von dem Scherzosatz der F-A-E-Sonate (1853) bis
zu den beiden Klarinettensonaten op. 120 (1894) werden sämtliche
24 (bzw. 25) Werkschöpfungen von den Duosonaten für Violine,
Violoncello und Klarinette über die Klaviertrios und -quartette
und das Klavierquintett, die Streichquartette, -quintette und -sextette
bis zum Klarinettentrio und Klarinettenquintett erklingen.
Das Anliegen der Veranstalter ist es, neben den häufig gespielten
Werken wie den drei Streichquartetten, dem Klavierquintett, den
Violin- und Violoncellosonaten die ganze Ideenwelt der Brahms’schen
Kammermusik zu erschließen. Die Kammermusik stand zeitlebens
im Zentrum seines kompositorischen Schaffens; von ihr aus erschloss
er sich auch die große sinfonische Form. Brahms sah sich
hineingestellt in den ästhetischen Meinungsstreit, der in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen „Neudeutschen“ und „Konservativen“ entbrannt
war. Heute hat man längst erkannt, dass er die aus der Wiener
Klassik tradierten Gattungen auf ganz eigenständige Weise
weiterentwickelte und so auch die Brücke zum 20. Jahrhundert
schlug. Es war Arnold Schönberg gewesen, der als einer der
Ersten auf zukunftsweisende Tendenzen im Werk von Brahms in seinem
bedeutsamen Vortrag „Brahms, der Fortschrittliche“ von
1933 hingewiesen hat und damit dem Klischee vom konservativen Brahms
entgegengetreten ist. Es war gerade die angeblich überholte,
wenn nicht sogar schon totgesagte Kammermusik, von der um und nach
1900 die Musikentwicklung, insbesondere die Zweite Wiener Schule,
neue Impulse empfing.
Inzwischen fand am 1. Februar im Großen Saal der Leipziger
Hochschule das gut besuchte Eröffnungskonzert statt. Der elfjährige
Elin Kolev aus der Kinderförderklasse imponierte mit dem auswendigen
Vortrag des Scherzos aus der F-A-E-Sonate, souverän begleitet
von Julian Dreßler. Mit der Interpretation des H-Dur-Trios
op. 8 (2. Fassung) lösten der Franzose Olivier Lioansi (Klavier),
der Argentinier Rodrigo Bauza (Violine) und die Zwickauerin Marie-Elisabeth
Hecker (Violoncello) wahre Begeisterungsstürme aus. Den krönenden
Abschluss bildete dann das Klavierquintett f-Moll op. 34 in ebenfalls
internationaler Besetzung: Am Klavier die aus Istanbul stammende
Serra Tavsanli, die Amerikanerin Paige Kearl und die Südkoreanerin
Eun-Ji Angela Kim saßen am Pult der Violinen, Amanda Anderson
aus Kanada spielte den Violoncellopart. Ebenfalls eine ganz hervorragende
Leistung! Diese Internationalität prägt heute, fast zwei
Jahrzehnte nach dem Fall von Mauer und Eisernem Vorhang, das Bild
der Leipziger Hochschule für Musik und Theater, einst 1843
von Mendelssohn als ältestes deutsches Konservatorium gegründet,
dem schon zu Brahms’ Zeiten die studierfreudige, musikalische
Jugend aus Europa und Amerika zuströmte. Ein verheißungsvoller
Auftakt jedenfalls war es!
Idee, Konzeption und Leitung der Veranstaltungsreihe liegt in
den Händen von Serra Tavsanli, Prof. Hanns-Martin Schreiber und
Prof. Dr. Johannes Forner, der auch für die Einführungen
und Textlesungen verantwortlich zeichnet.