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nmz-archiv
nmz 2008/03 | Seite 51
57. Jahrgang | März
Bücher
Außerhalb seiner selbst und ganz bei sich
Hector Berlioz’ Epoche machende Memoiren in zwei Neuausgaben
bei Bärenreiter und Hainholz
Hector Berlioz: Memoiren. Neu übersetzt von Dagmar Kreher.
Herausgegeben und kommentiert von Frank Heidlberger. Bärenreiter,
Kassel 2007, 680 Seiten, gebunden, € 64,00, ISBN 978-3-7618-1825-1
Hector Berlioz: Memoiren. Aus dem Französischen von Hans Scholz.
Herausgegeben und kommentiert von Gunther Braam. Hainholz, Göttingen
2007, 920 Seiten, gebunden (Lederfaser), € 59,00,
ISBN 978-3-932622-90-8,
„Variétés de spleen. L’isolement.“ So
ist eines der zentralen Kapitel der Memoiren von Hector Berlioz überschrieben.
Die rückblickende Schilderung einer erstmals im Alter von
16 Jahren auftretenden extremen Gefühlserscheinung – sie
trägt pathologische Züge – ist nicht nur literarisch
brillant, sondern korrespondiert auch mit der personifizierenden
Behandlung der Soloviola in der Harold-Symphonie oder der „Scène
aux champs“, der desolaten Pastorale aus der „Symphonie
fantastique“. Für den Übersetzer hält das
Kapitel schwere Brocken bereit. Schon in der Überschrift deuten
sich die Eigenarten der beiden Neuausgaben an: Wo Hans Scholz 1914
ein elegantes „Allerlei Spleen“ hinwirft, buchstabiert
Dagmar Kreher „Verschiedene Arten von Spleen“; wo Berlioz
im Folgenden mit poetischer Drastik sein „mal de l’isolement“ ausmalt,
diagnostiziert Kreher, die französische Wortbedeutung genauer
treffend, eine „Krankheit der Vereinsamung“, während
Scholz „Einsamkeitsweh“ dichtet.
Eine längere Passage schließt sich bei Kreher wie folgt
an: „Und der Anfall brach in seiner ganzen Gewalt aus, ich
litt entsetzlich, warf mich auf den Boden, schluchzte, spannte
meine schmerzenden Arme aus, riss krampfartig ganze Büschel
von Gras und unschuldige Gänseblümchen aus, die vergebens
ihre großen erstaunten Augen öffneten, und kämpfte
gegen das Abwesendsein, gegen die schreckliche Vereinsamung.“ Hans
Scholz übersetzt: „Und der Anfall brach mit aller Macht
aus; ich litt schrecklich, warf mich zur Erde, seufzend, die Arme
schmerzlich gebreitet, riß krampfhaft Gras aus und unschuldige
Gänseblümchen, die mich vergeblich aus großen,
verwunderten Augen ansahen, und rang mit der Verlassenheit, mit
der gräßlichen Vereinsamung.“
Auch hier ist Dagmar Kreher mit „Abwesendsein“ der
Bedeutungsnuance von „absence“ im Sinne von „geistesabwesend“ näher
als Scholz mit „Verlassenheit“, und doch reißt
Scholz uns stärker mit, trifft den Berlioz’schen Tonfall,
diese Mischung aus Flamboyanz und Präzision, die auch seine
Musik ausmacht, mit sicherem Instinkt. Wenn Berlioz freilich zuvor
seinen allmählich abdriftenden Seelenzustand mit der Formel
umschreibt „la vie était hors de moi“ (etwa: „das
Leben war außerhalb meiner selbst“), so stoßen
beide an die Grenzen des Übersetzbaren, Kreher mit „das
Leben war spürbar fern von mir“ ebenso wie Scholz mit „wie
weit von mir liegt doch das Leben“.
Die Eigenarten beider Übersetzungen haben natürlich auch
damit zu tun, dass uns Hans Scholz’ Sprache von 1914 jenes
Gefühl von historischer Distanz ganz natürlich vermittelt,
das Dagmar Kreher in ihrer Neuübersetzung wohl zu Recht nicht
erzwingen will. Ihre Stärke liegt in der engen Anlehnung an
das Original, das um der Genauigkeit willen auch einmal einen Formulierungsumweg
einschlägt. Dass ihre Version dennoch flüssig, stilistisch
einwandfrei bleibt, ist ein nicht gering zu schätzendes Verdienst.
Endlich liegen Berlioz’ Memoiren, ein Dokument der Musik-
und Literaturgeschichte gleichermaßen, nun also wieder auf
Deutsch vor. Grund genug, beide Übersetzungen freudig zu begrüßen,
statt sie kleinlich gegeneinander auszuspielen. Zumal die weit
verbreitete Übertragung von Elly Ellès (1905, sie ist
derzeit unkommentiert in der Sammlung literarischer Werke bei
Laaber lieferbar) an die Prägnanz derjenigen von Scholz nicht
heranreicht. Auch die editorische Leistung beider Ausgaben, ist – jede
auf ihre Art – vorbildlich. Frank Heidlberger vermittelt
dem Leser in seinen kommentierenden Fußnoten zur Neuübersetzung
den Blick aufs Ganze, auf den gesellschaftlichen, geistesgeschichtlichen
und musikhistorischen Hintergrund, während der einleitende
Essay die unterschiedlichen Textschichten dieses nicht am Stück
geschriebenen Werkes präzis umreißt und Berlioz’ literarische
Bewältigung seiner bewegten Lebensgeschichte klug kommentiert.
In einer überaus nützlichen Zeittafel werden biographische
und zeitgeschichtliche Daten den entsprechenden Buchkapiteln gegenübergestellt,
alle erwähnten Personen (knapp 900) finden sich kommentiert
im Register, das außerdem die Werke Berlioz’ erschließt.
Gunther Braam wiederum hat sich mit höchster wissenschaftlicher
Akribie der Edition der Scholz-Übersetzung angenommen. Zwar
relativiert sich die absolute Zahl von über 2.600 Fußnoten
(gegenüber den knapp 1.000 bei Heidlberger), wenn man die
von Braam konsequent auch mehrfach gelieferten Personendaten abzieht.
Dennoch liefert er mehr Fakten (etwa auch zu Werken, die nicht
von Berlioz stammen), und – ein unschätzbarer Vorteil – er
stellt mehr Querverbindungen zwischen den Kapiteln her. Ganz entgeht
er aber auch nicht der Gefahr, im Eifer der Vollständigkeit
das Wesentliche aus den Augen zu verlieren: Wenn Berlioz etwa auf
den „vorsintflutlichen“ Unterricht bei Jean-François
Lesueur zu sprechen kommt (Kap. 6), zählt Braam einige seiner
Werke und Karrierestationen auf und liefert Rameaus Lebensdaten.
Heidlberger dagegen nimmt die Erwähnung Rameaus zum Anlass,
auf Berlioz’ bereits zuvor zutage getretene Ablehnung von
dessen Theorien einzugehen und einen von Berlioz missverstandenen
Aspekt daraus zu erläutern; in einer weiteren Fußnote
umreißt er Lesueurs Unterrichtskonzept.
Für Bibliophile bleibt, auch angesichts des Preises, aber
wohl nur eine Wahl. Was der Hainholz Verlag vorlegt – mit
Unterstützung der Bayer Kulturstiftung, die damit ihre Berlioz-Saison
2003/04 zu einem verspäteten, aber triumphalen Abschluss bringt –,
ist eine in Ausstattung und Verarbeitung vorbildliche, ledergebundene
Kostbarkeit. Das Schriftbild ist von zeitloser Eleganz und wird
nur von den bisweilen doch arg Überhand nehmenden Fußnotenziffern
gestört. Die hervorragend wiedergegebenen Abbildungen (14
Porträts und 7 Seiten aus dem Autograph der „Mémoirs“)
bereichern den Band substanziell, die Kapitelnummern in den Kopfzeilen
sind eigentlich unverzichtbar. Im Anhang legt Braam Rechenschaft über
die Korrekturen ab, die er Scholz’ Übersetzung angedeihen
ließ; das Register umfasst wiederum auch jene nicht von Berlioz
stammenden Werke und listet im Berlioz-Eintrag auch thematische
Stichworte auf, vor allem aber sämtliche erwähnten Konzerte – beispielhaft.
Der wahre Berliozianer wird andererseits nicht um Heidlbergers
souverän gewichtende, ebenfalls sorgfältig produzierte
Edition herumkommen wollen. Warum auch, was sind schon zwei Ausgaben
der Memoiren für einen, der, von Metternich gefragt, ob er
derjenige sei, der Musik für fünfhundert Musiker komponiere,
antwortete: „Nicht immer, Durchlaucht, manchmal auch für
vierhundertfünfzig.“?