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nmz-archiv
nmz 2008/03 | Seite 52
57. Jahrgang | März
Noten
Zehn oder zwanzig Finger, aber nur ein Instrument
Eine Übersicht: neue Klaviernoten solo und vierhändig
Claus Kühnl: Der beleidigte Papagei. Elf Miniaturen für
Klavier, Edition Breitkopf, ED 9175
Berührungsängste, Unerfahrenheit oder auch mangelhafte
Hörpraxis mögen Gründe dafür sein, dass die
Musik des 20. Jahrhunderts, wie oben bereits kritisch erwähnt,
im Unterricht so stiefmütterlich behandelt wird. Um so erfreulicher
ist es, dass sich Claus Kühnl diesem Problem annimmt und in
der Reihe Breitkopf Pädagogik Vorschläge unterbreitet,
wie man die Hemmschwelle zu zeitgenössischer Musik überwinden
kann. Zuerst sollte man vielleicht die von ihm eingespielte CD
zur Hand nehmen, einmal anhören und den Notentext verfolgen.
Nun kann man sich ohne Scheu dem Selbstversuch nähern: Zu
jedem der elf Stücke gibt es Hilfestellungen, zuerst eine
thematische Annäherung, dann Vorschläge zur spieltechnischen
Umsetzung und Aufgaben zur Analyse. Natürlich spielt der experimentelle
Faktor eine wichtige Rolle: die Kopplung verschiedener Anschlagstechniken,
die daraus entstehende Vielfalt von Klangfarben, Überlagerungen
verschiedener Metren, der Umgang mit zeitgenössischer Notation,
das Einbinden des gesamten Tonumfangs. Kühnl versteht sich
als „Brückenbauer“ zu den Meistern der Moderne
(Messiaen, Lachenmann, Stockhausen und N.A. Huber). Diesem Anspruch
wird er mit dieser Ausgabe mehr als gerecht. Eine Verwendung
im Unterricht ab dem 3. Jahr sollte verpflichtend sein.
Christoph J. Keller: Im Wunderland.
20 Charakterstücke für
Klavier, Inventio Musikverlag, ISMN M-50156-005-9
Auf eine weitere Möglichkeit der Beschäftigung mit neuen
musikalischen Strukturen und Kompositionstechniken zielt diese
Ausgabe mit 20 Charakterstücken im mittleren Schwierigkeitsgrad.
Die Erweiterung neuer Hörhorizonte schwebte auch Christoph
Keller vor. In seinen Kompositionen darf auch einmal auf das Pult,
den Deckel oder die Beine geklopft werden, was vollen körperlichen
Einsatz erfordert, wenn man die Taktwechsel auch noch bewältigen
will. Auch das Zupfen der Saiten (Flügel notwendig!) oder
Glissandi in Verbindung mit stummer Anschlagsweise braucht Koordinationstalent
und auch eine gewisse körperliche Größe. „Im
Wunderland“ wurde 2002 von fünf Schülerinnen
im Alter zwischen 12 und 19 Jahren uraufgeführt und benennt
die Zielgruppe.
Carl Czerny: Easy Studies Vol.
I for Piano and Orchestra, Dowani
International, DOW17007
Bestrebungen, Schülern das Etüdenspiel schmackhaft zu
machen, indem man es in einen Orchesterklang einbettet, sind sicher
nicht von der Hand zu weisen. Nun sind Cerny-Etüden ja so
angelegt, dass man hübsch im Takt zu bleiben hat. Diese Tatsache
mag die Verwendung der beiliegenden Play-Along-CD in drei Tempi
rechtfertigen. Diese gibt zuerst den gesamten Orchesterklang wieder
und bietet dann mehrere Möglichkeiten des Übens und Mitspielens.
Letzeres sollte man allerdings nicht übertreiben und lieber
selbsttätig üben. Dafür gibt es in der Ausgabe eine
Stimme für Piano II (Partitur), so dass auch an Spiel an zwei
Klavieren möglich ist, sofern sie zur Verfügung stehen.
Claude Debussy: Pour le piano, Bärenreiter Urtext, BA 8770
Mit „Pour le piano“ erscheint ein weiteres Werk in
der Urtext-Reihe des Kasseler Verlags. Beim Aufschlagen der Noten
muss man eine Unzahl von Seiten überblättern, um an den
Notentext zu gelangen. Vor der Annäherung an diesen gilt es
also, den in drei Sprachen verfassten Einführungstext von
Regina Back genau zu studieren. Sie „ermittelte“ sozusagen
in alle Richtungen und trug eine Fülle von Informationen zusammen.
Dank des akribisch geführten Quellenstudiums erfährt
der Leser nicht nur Einzelheiten zum Werk, es kommen neben Debussy
selbst auch Personen aus seinem künstlerischen Umfeld zu
Wort. Die komplizierte Entstehungsgeschichte, die schwierige
Inverlagnahme
des Werkes, dubiose Verflechtungen rechtlicher Art und die damit
verbundenen Konsequenzen werden anschaulich geschildert.
Das dreisätzige Werk, welches mit seinen Satztiteln Prelude,
Sarabande und Toccata an die barocke französische Suite anlehnt,
markiert den Übergang zum Reifestil des Komponisten und gilt
darüber hinaus als Musterbeispiel für Vitalität
und Motorik bei Debussy. Das innere Kernstück der Suite, die
Sarabande, gehörte in seiner Erstfassung (im Anhang des Bandes
abgedruckt) zum Zyklus „Images“. Auch die Widmungsträger
der drei Stücke geben verlässlich Auskunft über
die Entstehungszeit. Debussy unterzog die Sarabande einer Revision
und integrierte sie im Jahr 1901 in seinen Zyklus „Pour le
piano“. Das Prelude mit seinen ausgedehnten Orgelpunkten
und Glissandi liefert mit dem ersten Thema den motorischen Treibstoff.
Das kontrastreiche, sangliche zweite Thema wird in der Durchführung
auf reizvolle Weise kombiniert. Spätestens hier stellt sich
die Frage zur Aufführungspraxis. Obwohl Debussy bei der Niederschrift
recht präzise vorging und auch ansonsten klare Vorstellungen
verfolgte (sogar die Titelseite der Erstausgabe wurde nach seinen
Wünschen gestaltet), überließ er zum Beispiel Fingersatz-
und Pedalgebrauch sowie Tempo der musikalischen Intelligenz des
Interpreten. Debussy selbst nahm erstaunliche rhythmische und tempobezogene
Freiheiten in Anspruch, wie die ausgiebige Recherche Regina Backs
belegt. Zudem ist überliefert, wie Debussy Artikulation, Ausdruck
und Dynamik handhabte. Marguerite Long zufolge hat er in der Sarabande „diese
wunderbaren Akkordfolgen mit einer solchen Ausdruckskraft und einem
solch intensiven Legato gehalten, wie niemand es jemals können
wird“. Und noch ein Zitat: „Wären Sie so freundlich,
Ihren Notenstecher inständig zu bitten, die Platzierung der
,Nuancen‘ genau zu beachten – es ist von höchster
und pianistischer Wichtigkeit.“(Debussy an den Verleger
Jacques Durand).
Zur Edition: Die eingangs bereits erwähnten Schwierigkeiten
und die Besitzfolge des Werkes nach Debussys Tod lassen eine verlässliche „Urtext“-Behandlung
kaum zu. Vorliegende Ausgabe orientiert sich prinzipiell an dem
Ravel übergebenen korrigierten Exemplar aus der Zeit um 1902.
Der Druck erfolgte großzügig, im Vergleich mit anderen
Ausgaben wurden nur so viel als nötig Warnvorzeichen gesetzt,
der Einsatz der Schlüssel (auch Umschlüsselungen) richtet
sich nach der einfacheren und unmissverständlichen Lesbarkeit.
Thomas Peter-Horas: 20 Finger
und nur 1 Klavier, Heft 1 E.D. 22957,
Heft 2 E.D. 22958, Edition mf
Beide Hefte beinhalten je drei Stücke in größerem
Umfang. Diese Konzeption rückt etwas ab von den zumeist kurzen
Stücken im vierhändigen Bereich. Konsequenterweise stehen
sie praktisch zur Verfügung, wenn Literatur beispielsweise
für Wettbewerbe gesucht wird. Mit Titeln wie „Marsch“, „Tango“, „Karussell“, „Talfahrt“, „Wintersonne“ und „Schöne
Aussichten“ wird die Richtung eingenordet. Frische und Spielfreude
werden garantiert, einige Tücken im Zusammenspiel müssen
zwar überwunden werden, aber das tut Pianisten als permanente
Einzelspieler ganz gut. Die Interpreten sollten eine Oktave leicht
greifen können, im Akkordspiel sicher und im Rhythmus fit
sein. Die Ausgabe trägt keinen progressiven Charakter, der
Schwierigkeitsgrad bewegt sich auf der Unterrichtsskala im mittelschweren
Bereich. Die Notation erfolgte traditionell, nicht partiturmäßig.
Dorothee Eberhardt: Chamäleon, Klavierspaß zu vier
Händen, TRIO Musik Edition PN-005
Das bereits im Jahre 1990 entstandene Klavierstück der
Münchner Komponistin wurde 2007 von der TRIO Musik Edition
in Mettenheim veröffentlicht. Vorausgegangen waren mehrere
von Erfolg gekrönte Aufführungen, deren Zahl sich nun
noch vervielfachen dürfte. Das zunächst titellose Stück
kam erst nach der Uraufführung zu seinem Namen. Der tierische
Bezug ist das Resultat musikalischer Beobachtungsgabe, über
die die jungen Interpreten und ihre Zuhörer offenbar verfügten.
Was passiert in dem Stück? Zunächst spielen Primo und
Secondo einstimmig, das gespiegelte Thema im ruhigen Tempo verläuft
dissonant und chromatisch und wird unter Hinzunahme der linken
Hand immer schneller und lauter werdend in die tonlichen Außenbereiche
des Klaviers getrieben. Die Stimmen nähern sich wieder an
und münden in ein zweites, synkopisiertes Thema in Form eines
aufgelösten Terz-Quart-Akkordes, welches „ragtimet“.
Der Primo-Spieler gibt dieses Thema vor, vom Secondo wird es kanonisch übernommen
und stufenartig versetzt. Es korrespondiert zwischen den Spielern,
wechselt sozusagen die Farbe und gipfelt in motorischen Fortissimo-Akkorddissonanzen.
Nach einer kurzen Zäsur wird das Tempo primo mit dem imitierten
ersten Thema nur knapp aufgenommen und verklingt schließlich.
Das „Chamäleon“ ist „ein kurzer, spaßiger
Dialog für zwei Pianisten (…) mit ungenierter Freude
an reizvollen Harmonien“(Eberhardt). Beim Zusammenspiel gibt
es kaum Hürden zu überwinden, der Schwierigkeitsgrad
liegt im Bereich mittelschwer, Dauer circa drei Minuten.