[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2008/03 | Seite 29
57. Jahrgang | März
Verbandspolitik
Künstlerische und pädagogische Arbeit sind untrennbar
nmz-Interview mit Helmut Bieler-Wendt, Institut für Neue Musik
und Musikerziehung, zum 60-jährigen Bestehen
Das Institut für Neue Musik und Musikerziehung feiert Ende
März dieses Jahres seinen 60. Geburtstag. Formal besteht die
Aufgabe des Instituts ursprünglich darin, jährlich eine
Tagung auszurichten, die so genannte Hauptarbeitstagung. Seit zehn
Jahren ist Helmut Bieler-Wendt im Vorstand des Instituts. nmz-Chefredakteur
Andreas Kolb unterhielt sich mit dem Komponisten und Musikpädagogen über
Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Darmstädter Instituts.
Helmut
Bieler-Wendt.
Foto: Juan Martin Koch
neue musikzeitung: Seit sechzig Jahren ist
der Name des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Programm. Stehen für
Sie im Jubiläumsjahr Neue Musik und Musikerziehung auf dem
Prüfstand oder einfach nur im Zentrum Ihrer Feierlichkeiten? Helmut Bieler-Wendt: In den letzten zehn Jahren
kamen wir wieder stärker zurück zu einem Ansatz, der für das Institut
bereits in seiner Gründungsphase wesentlich war, nämlich
dass die künstlerische Arbeit und die pädagogische Arbeit
einfach untrennbar zusammengehören. Für uns ist es nicht
denkbar, eine Musikerziehung zu fördern, die an den zeitgenössischen
Entwicklungen der Kunst vorbei geht. Wir halten heute allerdings
auch den Umkehrschluss für richtig, dass es auch nicht wirklich
sinnvoll ist, eine Kunstentwicklung zu forcieren, die an der Vermittlung
und am Kontakt mit dem Publikum und mit den jungen Leuten vorbei
geht.
nmz: Was genau passiert in Darmstadt
in diesem Jahr? Bieler-Wendt: Es geht um die Auseinandersetzung
mit dem, was in der zeitgenössischen Musik im Kontext von
Technik, Natur und Wissenschaft passiert. Wir werden das in vier
größeren
Themenblöcken abhandeln. Im ersten geht es um die Einflüsse
zwischen Technik und Natur auf die Entwicklungen in der zeitgenössischen
Musik. Es wird in der zweiten Runde dann um Aspekte, die im Zusammenhang
stehen mit Experiment, Klang- und Strukturforschung, gehen. Das
haben wir gekoppelt mit der Vorführung von Filmen, in denen
zeitgenössische Komponisten Wissenschaftsthemen mit ihrer
Musik kombinieren – ein kleines Kurzfilmfestival ist da entstanden.
Wir gehen dann im dritten Block wie immer auf das Schaffen eines
Komponisten intensiver ein – in diesem Fall der Komponistin
Adriana Hölszky, die auch persönlich anwesend sein wird.
Im vierten Themenblock, bei der Gegenüberstellung von High
Tech und Low Tech, wird es darum gehen, auch Strategien zu zeigen,
die Technisierung unterlaufen oder konterkarieren. Diese vier Hauptschwerpunkte,
die jeweils durch die eingeladenen Referenten eine besondere Tiefenschärfe
bekommen, erfahren mit den Abendkonzerten dann Erweiterung durch
substanzielle Klangerfahrung.
nmz: Die lange Tradition der
Stadtmusik im Rahmen der Frühjahrstagung
wird fortgesetzt? Bieler-Wendt: Vor der Tagung werden wir wie üblich eine Stadtmusik
machen, in der wir verschiedene Kooperationsergebnisse, vor allem
mit Kindern und Jugendlichen, in der Stadt vorstellen. Mit der
Paulusgemeinde in Darmstadt werden wir verschiedene Aktivitäten
um Kirche und Konzertsaal herum präsentieren. Es wird einen
Festakt geben mit einem Festvortrag von Jörn Peter Hiekel.
Neben den üblichen Grußworten wird aber das wichtige
an diesem Festakt das Festkonzert sein, wo wir mit ausgewählten
Programmpunkten Stellung beziehen zu dem, was das Institut heute
für uns ist. Etwa indem wir die Klangbaustelle des Hochrheingymnasiums
Waldshut unter der Leitung von Matthias Handschick eingeladen haben.
Dann wird die Talking Machine von Martin Riches mit einem Stück
von Roland Pfrengle zu erleben sein. Abschließen werden wir
mit dem Trio von Jaques Demierre, Urs Leimgruber und Barre Phillips.
nmz: Wirkt die Musikerziehung,
die Sie am Institut betreiben, auch konkret in die Schulen? Bieler-Wendt: Da gibt es derzeit gute Beispiele,
die wir in der Beilage etwas ausführlicher behandeln. Da ist einmal die Kooperation
mit dem Referat Kultur der Stadt Kaiserslautern. Zum anderen ist
eine für uns sehr wichtige und konkrete Wirkung dadurch entstanden,
dass wir sehr früh und sehr intensiv in die dm-Initiative
ZukunftsMusiker hineingehen konnten und auch dort, vernetzt mit
den anderen Kulturpartnern, bestimmte musikpädagogische Ideen,
die mit Entwicklungen zeitgenössischer Musik zu tun haben,
einbringen können.
nmz: Weitere Schwerpunkte? Bieler-Wendt: Wir sind aktiv in der pädagogischen Entwicklung
an der Schnittstelle zwischen Kindergarten und Grund- und Hauptschule
und haben auch da verschiedene Kooperationen, an denen wir im Augenblick
arbeiten. Zum Beispiel einen Modellversuch des Kultursekretariats
Nordrhein-Westfalen, wo ich derzeit an einem Kompendium arbeite
zur Auseinandersetzung der Bläserklassen in Nordrhein-Westfalen
mit Musik des Orients, also zum Beispiel mit arabischer und türkischer
Musik. Und nach wir vor betreuen wir Practicprogramme für
angehende Erzieher/-innen am Jugendhof Vlotho – eine verantwortungsvolle
Aufgabe.
nmz: Wie sind Sie in der Hochschulebene
zugange? Bieler-Wendt: Das ist ein ganz wichtiger Ansatzpunkt.
Wir haben sehr lange drauf gewartet, dass sich dort wieder etwas
tut. Es
gibt glücklicherweise Hochschulen, die die Auseinandersetzung
mit der Neuen Musik nicht nur als einen unvermeidlichen berufsergänzenden
Ausbildungsaspekt für ihre Studenten begreifen, sondern die
in entsprechenden Instituten auch Pädagogik und Vermittlung
als wesentlich mitdenken. Wir sind durch Vorstandsmitglieder mit
der Hochschule in Dresden und der Folkwang Hochschule Essen verbunden.
Es gibt gute Kontakte zur Hochschule in Frankfurt. Wir sind Gast
der Akademie für Tonkunst in Darmstadt, und wir bauen weitere
Kontakte zu den Hochschulen auf – derzeit im Kontext des
chiffren-Festivals Kiel mit der Musikhochschule Lübeck.
nmz: Wenn Sie an die Zukunft
denken – Sie sind ja auch ZukunftsMusiker –,
wohin soll es gehen mit dem Institut? Bieler-Wendt: Was sicherlich prägen wird, sind Kontakte, die
interdisziplinär sind. Die Idee der Vernetzung, die Bündelung
von Aktivitäten, ohne dass man eigene Positionen und Institutionen
aufgibt, wird ein wichtiger Aspekt sein. Denn wir stehen an einem
Punkt, an dem unsere Gesellschaft in zwei Klassen zerfällt:
Eine, die Zugang zu Kultur hat und eine, die keinen Zugang zu Kultur
mehr bekommt. Die Zugangsmöglichkeiten zu Kultur auf Seiten
derer, die ihn bereits haben, werden sehr befördert. Wenn
ich aber an meine Erfahrungen in der Grund- und Hauptschule denke,
dann finden wir dort auf den ersten Blick eine absolute Kulturwüste
vor. Das heißt nicht, dass es dort gar keine Kultur gäbe – sie
ist einfach sehr anders. Da müssen wir Anschlusspunkte schaffen.
Das wichtigste von allem wäre, ein gemeinsames Kulturleben
zu entwickeln, ohne Uniformität und ohne Vorurteile.
nmz: Als das INMM gegründet wurde, da hat man sich abgesetzt
von der so genannten musischen Erziehung, die man als reaktionär
empfunden hat. Man hat gesagt, Neue Musik ist auch ein Thema der
Musikerziehung zum Beispiel. Heute stehen andere musikpädagogischen
Debatten an. Es gibt den Streit darum, ob man an den Schulen einen
Fächerkanon durchsetzen muss oder will, es geht darum, ob
man in den Schulen auf Reflexion über Musik verzichtet und
wieder mehr zum Musischen zurückkehrt. Es ist auch das Thema
Populäre Musik in den Schulen, die einen ähnlichen Stellenwert
beansprucht wie die Klassik oder die Neue Musik. Wie stellen Sie
sich da kulturpolitisch und bildungspolitisch zu solchen Entwicklungen? Bieler-Wendt: Ein grundsätzlicher Verzicht auf Reflexion bezüglich
der Musik ist auf jeden Fall ein Fehler. Denken und Tun gehört
einfach zusammen. Ich denke, dass man unterschiedlichen Schultypen
unterschiedliche Ansatzpunkte bieten kann, die aber immer auch
eine Verbindung mit der Musikpraxis beinhalten müssen. Die
wichtigste Erfahrung für die Grund- und Hauptschüler,
mit denen ich arbeite, ist, dass sie Musik machen können,
und dass ihnen jemand überhaupt zutraut, dass sie eine eigene
Sprachfähigkeit im Musikalischen haben. Denken und Wissen
können gehört hier zum Lernen dazu.
nmz: Wenn ich Ihre Programme
zu den Arbeitstagungen durchblättere – das
ist durchaus ein sehr elitärer Kanon, der sich in den Lehrplänen
der Schulen nur in Bruchteilen widerspiegelt? Bieler-Wendt: Wir thematisieren Dinge, die sonst
in dieser Form, in diesen Verknüpfungen und in dieser Intensität nirgendwo
vorkommen. Wir haben die Tagung für Kinder und Jugendliche
geöffnet und in den letzten Jahren gezeigt, dass wir nicht
so praxisfern sind, wie wir es einmal gewesen sein mögen.
Kinder und Jugendliche, eine Klientel, die von 8 bis 18 gehen kann,
sind durchaus bereit, sich mit unseren Themen auseinanderzusetzen.
Bei der letzten Tagung erarbeitete eine Gruppe von Kindern und
Jugendlichen mit Karl-Heinz Zarius das Thema „Zufall und
Realität“ anhand von Cages „Theatre piece“.
Wenn man Jahr für Jahr miterleben kann, zu welchen Intensitäten
junge Menschen fähig sind in dieser kurzen Zeit, dann darf
man mutig und zuversichtlich sein, was die Entwicklung und das
Zusammenspiel zwischen Reflexion, Analyse, Singen und Spielen,
aber auch zwischen Alt und Jung anbelangt.