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nmz-archiv
nmz 2008/04 | Seite 42
57. Jahrgang | April
Oper & Konzert
Endzeit-Jazz
Michael Wertmüller mit Ives #1
Wer Worte wie die „Gewalt der Ästhetik“ liest,
denkt nicht an die „Wahrheit der Wahrnehmung“, aber
genau das gilt es zu denken, wenn eine ästhetische Erfahrung
so überwältigend ist, dass sie die Grenzen der Wahrnehmung übersteigt
und die Gewalt der Wahrheit spürbar werden lässt. Ein
Moment, in dem die Wahrnehmung auf ihre Wahrheit zurückgeführt
wird und die Wahrheit sich dem Einzugsbereich der Wahrnehmung nicht
entzieht. Insofern steht auch die „Ästhetik der Gewalt“ beziehungsweise
die „Wahrnehmung der Wahrheit“ im Raum, wenn, wie kürzlich
im Rahmen des Berliner club transmediale, das jüngst gegründete
Quartett Ives #1 auftritt. In Wirklichkeit aber steht da nichts.
Alles tanzt. Brodelt. Pulsiert. Tobt. Stürzt. Kreischt. Alles
auf einmal. Ist in zerrissenster Bewegung begriffen. Ist Endzeit-Jazz,
eingespielt auf Dächern von einstürzenden Neubauten auf
dem Mars.
Obwohl es (= der Sound, die Komplexität, das Unternehmen)
das Publikum schon längst erfüllt, kommt es immer näher.
Der Sänger Thomas Mahmoud hat sich in seinem Kapuzenpulli
und zugeknüpftem Parker in Trance gezappelt und erinnert immer
mehr an eine Muppet-Show-Figur, die von Satan besessen ist: In
minimalen, nervös-ekstatischen Bewegungsabläufen bedient
er ein Mischpult, an dem er seine schreiende Stimme verfremdet,
mal als kalten Grindschauer, mal als faserige Wand aus Rauschen.
Zwischen seinen Handlungen und den Sound-Effekten, die sie auslösen,
scheint kein unmittelbarer Zusammenhang zu bestehen.
Wertmüller,
der sich mit seinem Schlagzeug imposant im Zentrum aufgebaut hat,
arbeitet mit zwei Bassdrums, auf die er zugleich
ungestüm und planvoll durchdacht eintrommelt: Sein „hakenschlagendes
Double-Bass-Spiel“ wird von Noten geleitet, die er mit einem
Auge abliest, und von einer improvisatorischen Athletik getrieben,
die ihn bisweilen wie eine außer Kontrolle geratene Aufziehpuppe
aus einem Samuel Beckett-Stück aussehen lässt. Währenddessen
scheint sein Mitstreiter Pliakas an seinem Bass kurz vor einem
Gefühlsausbruch zu stehen. Er
bearbeitet die Saiten seines Instruments – eine von ihnen
reißt nach nur wenigen Minuten – mit einer ähnlichen
Mischung aus Präzision und Brutalität. Unter Hochspannung
auf den vor ihm stehenden Notenständer vor ihm fixiert, scheint
es, als würde er jeden Moment anfangen, seinen Kopf im Takt
der Musik schnell vor- und rückwärts, seitwärts
oder im Kreis zu bewegen.
Im Traum spricht das Unaussprechbare seit Ende letzten Jahres im
Namen von Ives #1 eine unverwechselbare Sprache, deren Elemente
sich zusammensetzen aus Welten so unterschiedlich wie E-Musik,
Metal, Elektronik, Improvisation, Post-Rock, Grindcore, Pop und
Avantgarde. Diese Welten sind es, in denen Michael Wertmüller
(Alboth!, Peter Brötzmann Trio), Marino Pliakas (Steamboat
Switzerland, Peter Brötzmann Trio), Thomas Mahmoud (ex Von
Spar, Oliver Twist Conspiracy) and Gerd Rische (Elektronik-Chef
an der Akademie der Künste) bislang zu Hause waren und die
sie für dieses Projekt mutigerweise verlassen haben.