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nmz 2008/04 | Seite 1
57. Jahrgang | April
Leitartikel
Gefährliches Drehen an sensibler Schraube
Zur Debatte um die Verlängerung der Schutzfristen für
Musikaufnahmen · Von Jens-Uwe Völmecke
Nachdem der Forderung der Musikindustrie und Interpreten nach
einer Verlängerung der Schutzfristen für Musikaufnahmen
von 50 auf 95 Jahre von Seiten der britischen Regierung eine klare
Absage erteilt worden ist, hätte man glauben können,
die Debatte sei zu Ende. Doch weit gefehlt. Nach einem Scheitern
der Petition in England bringen alte und neue Lobbyisten, darunter
der deutsche Schlagerstar Udo Jürgens, das Thema nun erneut
und diesmal auf die europäische Ebene. EU-Binnenmarkt-Kommissar
Charlie McCreevy will noch vor der Sommerpause einen entsprechenden
Vorschlag zur Änderung der Schutzdauer der europäischen
Kommission vorlegen.
Vielen ausübenden Künstlern, so die Befürworter
der Gesetzesänderungen, drohen 50 Jahre nach Veröffentlichung
ihrer großen Hits erhebliche finanzielle Einbußen,
da die fraglichen Aufnahmen dann den „Public Domain“-Status
erreichen und somit für kommerzielle Auswertungen frei und
ohne weitere Tantiemenzahlungen zugänglich sind. Auch die
Musikkonzerne befürchten in den nächsten Jahren Einnahmeverluste
in Milliardenhöhe. Werden doch zum Beispiel frühe Beatles-Aufnahmen
in Europa nach der derzeitigen gesetzlichen Regelung ab dem Jahr
2013 frei verfügbar sein. Bevor die britischen Politiker die
Forderungen der Musikindustrie und Künstler, zu denen immerhin
Ex-Beatle Paul McCartney und Cliff Richard gehören, ablehnten,
ließen sie ein eingehendes Gutachten zu diesem Thema anfertigen.
Dieser „Gowers-Report“, wie er genannt wird – verfasst
von dem ehemaligen Chefredakteur der „Financial Times“,
Andrew Gowers –, belegt eindeutig, dass eine Schutzfristenverlängerung
eher kontraproduktiv und in letzter Konsequenz für die kulturelle
Vielfalt schädlich ist. Mit einigem Unbehagen musste man bei
dieser Gelegenheit auch zur Kenntnis nehmen, dass die Musikindustrie,
auf deren Initiative die Schutzfristenkampagne zurückgeht,
offenbar mit fragwürdigen Mitteln gearbeitet hatte. Sie schaltete
in der „Financial Times“ eine Anzeige, auf der sich
4.000 Künstler für die Verlängerung der Schutzfristen
aussprechen. Der Rechtsprofessor und Creative Commons-Vorkämpfer
Lawrence Lessig stellte kurze Zeit später fest, dass einige
der Künstler auf der Liste, zum Beispiel Lonnie Donegan oder
Freddie Garrity, bereits das Zeitliche gesegnet hatten. Und Lessig
zögerte nicht, seine Erkenntnis mit süffisant ironisch
gewürzten Kommentaren zu veröffentlichen: „Wenn
Künstler nach ihrem Tod noch Petitionen unterzeichnen können,
dann ist es wohl auch nicht ausgeschlossen, dass sie in fünfzig
Jahren noch ein neues Album auf den Markt bringen.“
Also alles nur eine Farce, ein „Mittel zum Zweck“,
um die Stellung der Musikindustrie im Kampf um möglicherweise
lukrative Rechte zu stärken? Wenn die Diskussion, so wie im
Moment, nur schwarz-weiß und ohne Auslotung von Zwischentönen
geführt wird, ganz bestimmt. Sicherlich geht es auch den Gegnern
einer solchen Schutzfristverlängerung nicht darum, noch lebende
Künstler nach 50 Jahren ihrer Einnahmen zu berauben. Ein legendärer
Altstar wie Fats Domino, der bei der großen Flutkatastrophe
in New Orleans seinen gesamten Besitz verloren hat, wird auf seine
Royalties, so sie ihm vertraglich zustehen, sicherlich angewiesen
sein. Aber genau hier liegt schon ein erstes Problem. Viele Plattenverträge
der 50er- und 60er-Jahre waren noch so gestaltet, dass die Künstler
gegen einmalige Abfindung ihre Aufnahmen machten. Selbst ein betroffener
Künstler wie Freddy Quinn erzählt heutzutage in Talkshows
freimütig, dass sein erster Millionseller „Heimweh“ 1956,
damals sogar auf eigenen Wunsch, weil er Geld brauchte, mit einer
einmaligen Zahlung abgegolten wurde. Wie viele Künstler wirklich
von Seiten der Phonoindustrie weiterhin Tantiemenzahlungen zu erwarten
hätten, wäre also zu hinterfragen.
Laut ist der Ruf nach einer Gleichstellung der ausübenden
Künstler mit den Autoren, deren Kompositionen ja bekanntlich
bis 70 Jahre nach ihrem Ableben geschützt sind. Übersehen
wird hierbei jedoch, dass die lautesten Rufer in dieser Sache in
der Regel sogar doppelt abgesichert sind, denn Stars wie Udo Jürgens
oder auch Paul McCartney sind in der Regel nicht nur die Interpreten,
sondern auch die Urheber (Komponisten bzw. Textdichter) des aufgenommenen
Werkes. In der Realität bedeutet dies nichts anderes als einen
urheberrechtlichen Schutz, bei dem ganz schnell einmal 120 Jahre
oder mehr zusammenkommen können, denn während die Einnahmen
aus den Plattenverkäufen nach „nur“ 50 Jahren
wegbrechen, laufen die GEMA-Tantiemen auch nach dem Tod eines solchen
Urhebers weiter und alimentieren nicht selten noch Nachkommen in
der dritten Generation,
die nicht einmal mehr wissen, wer denn ihr musikschaffender Vorfahre überhaupt
war.
Weiterhin stellt sich die Frage, wie eine solche Schutzfristenverlängerung
für Musikaufnahmen durchgeführt werden soll. Die Debatte,
so wie sie heute geführt wird, erweckt den Eindruck, als sei
an eine pauschale und somit rückwirkende Verlängerung
gedacht. Dies bedeutet nichts anderes, als dass eine Unmenge von
Aufnahmen ihren bereits erreichten „Public Domain“-Status
wieder verlieren würde, eine Tatsache, die besonders auf dem
Klassikmarkt zu skurrilen Auswüchsen führen würde.
So wären die Aufnahmen des legendären Tenors Enrico Caruso
(gestorben 1921), die inzwischen unbestritten zum kulturellen Erbe
gehören, wieder geschützt. Nicht anders erginge es den
Aufnahmen eines Wilhelm Furtwängler (gestorben 1954) oder
eines Arturo Toscanini (gestorben 1957). Jeder musikwissenschaftlich
tätige Autor und auch Musikliebhaber kennt die Problematik:
Die interessanten Aufnahmen dieser Künstler wurden eben nicht
von der Phonoindustrie gemacht, die sie heute noch – zumeist
relativ lieblos aufgemacht – als Billigpreis-CD anbietet.
Die wahren Schätze sind auf unzähligen Privat- und Rundfunkmitschnitten
festgehalten, die jahrzehntelang auf immer maroder werdenden Magnetbändern
in den Archiven gelegen haben und die jetzt von findigen Archivaren
und mutigen Independent Labels unter teilweise erheblichem Kostenaufwand
restauriert und vorbildlich editiert werden. Labels wie Naxos,
Testament und Hänssler Profil tragen derzeit zu einer kulturellen
Vielfalt bei, die ihresgleichen sucht. Auch Veröffentlichungen
wie die von Bear Family über den jüdischen Kulturbund
(„Vorbei – Beyond Recall“) wären ebenso
unmöglich wie die Arbeit des Berliner Independent Labels „Edition
Berliner Musenkinder“, das in vielen Veröffentlichungen
die Lebensgeschichte jüdischer Emigranten (Interpreten wie
Komponisten) aufarbeitet, dokumentiert und somit der Nachwelt erhält.
Desweiteren gestaltet sich Jahrzehnte nach Ableben einer Künstlerpersönlichkeit
die Suche nach möglichen Rechtsnachfolgern immer komplizierter.
Die dann gesetzlich vorgeschriebenen Recherchen sind bereits jetzt
mitunter so zeitaufwendig, dass der hierfür notwendige Aufwand
in keinem vernünftigen Verhältnis zu einem eventuell
zu erwartenden Ertrag steht. Erfahrungsgemäß sind Produzenten
wie zum Beispiel Rundfunkanstalten schon nach wenigen Jahren nicht
mehr in der Lage, korrekte Anschriften oder Kontaktpersonen zu übermitteln,
um eventuell abzuklärende Rechte abzufragen. Hier baut sich
eine nahezu unüberwindbare Hürde auf, die am Ende nur
eine Option zulässt: Entweder man lässt die Finger von
einer solchen Veröffentlichung und schadet damit in letzter
Konsequenz der kulturellen Vielfalt, oder man riskiert eine Edition,
von der man weiß, dass sie rechtlich auf tönernen Füßen
steht.
Genaue Überlegungen sind also angebracht, bevor man an der
Schutzfristen-Schraube dreht. Einen Schutz noch lebender Künstler
zu gewährleisten sollte rechtlich kein Hindernis darstellen.
Hierzu genügt es, den derzeit bestehenden geschützten
Zeitraum im Prinzip aufrecht zu erhalten und den Gesetzestext mit
der Erweiterung „spätestens aber mit dem Ableben des
ausübenden Künstlers oder bei Ensembles des zuletzt Überlebenden“ zu
versehen. Unreflektierte Entscheidungen und Schnellschüsse
sollten aber in jedem Falle vermieden werden, sie könnten
unter Umständen eine kulturelle Trümmerlandschaft hinterlassen.