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nmz-archiv
nmz 2008/04 | Seite 8
57. Jahrgang | April
Magazin
Das Wunder von Caracas und seine Folgen
nmz-Gespräch mit Musikratspräsident Martin Maria Krüger über
auswärtige Musikpolitik
Es war die Jeunesses Musicales Deutschland, die „das Wunder von Caracas“ hierzulande
bekannt gemacht hat. Heute ist das „Simon Bolivar Youth Orchestra of
Venezuela“ ein Begriff und ein gefragter Gast vom Beethovenfest Bonn
bis zum Lucerne Festival. Das Orchester ist entstanden aus dem weltweit einzigartigen
Musikerziehungssystem der staatlichen Stiftung FESNOJIV (Fundación del
Estado para el Sistema Nacional de Orquestas Juveniles e Infantiles de Venezuela).
Vater des „Sistema“ ist der Musiker, Ökonom und Kulturpolitiker
José Abreu, er entwickelte und perfektionierte es in den vergangenen
20 Jahren. Ein bereits von der JMD und zahlreichen Orchestermusikern in den
zurückliegenden Jahren immer wieder punktuell erfülltes Anliegen
der FESNOJIV will nun der Deutsche Musikrat systematisch ausbauen und deutsche
Musiker als Dozenten nach Venezuela entsenden. Zunächst sind es 16 Instrumentallehrerinnen
und -lehrer, die im Jugendorchesterapparat des „Sistema“ Erfahrungen
einbringen, aber auch sammeln sollen. Wie funktioniert dieser Austausch, und
wie hat sich das überhaupt ergeben? Andreas Kolb traf Musikratspräsident
Martin Maria Krüger und fragte nach.
neue musikzeitung: Wie kam dieses neueste Projekt des DMR zustande? Martin Maria Krüger: Wir sind der Jeunesses Musicales dankbar für
diesen Brückenschlag. 2006 sind in Caracas das Bundesjugendorchester und
das nationale Jugendorchester Venezuelas zusammengetroffen und haben auch gemeinsam
musiziert. Am Rande dieser Begegnung bin ich José Antonio Abreu begegnet.
Bei diesen sehr intensiven mehrtägigen Begegnungen wurde auch das Anliegen
einer Zusammenarbeit in der Weise besprochen, dass wir in Deutschland Lehrkräfte
akquirieren, die befristet im „Sistema“ tätig werden. Damit
verbunden ist auch die Idee, von diesem inzwischen weltweit bestaunten Projekt
der Musikerziehung und Sozialarbeit zu lernen.
nmz: Welche Partner haben Sie gefunden? Krüger: Partner des Projekts sind die Rektorenkonferenz
der deutschen Musikhochschulen, die Deutsche Orchestervereinigung,
die sehr nachhaltig finanziell
fördert, das Auswärtige Amt, das eine Instrumentenspende in erheblichem
Umfang leisten wird, das Goethe-Institut, der Verband deutscher Musikschulen
und FESNOJIV verbundene Freunde. Am 1. April werden für vier Monate 16
Lehrerinnen und Lehrer nach Venezuela gehen, die in einem anspruchsvollen Auswahlverfahren
ermittelt und in der Akademie Schloss Eichholz der Konrad-Adenauer-Stiftung,
einem weiteren Partner, intensiv vorbereitet wurden.
nmz: Die Musiker arbeiten dezentral? Krüger: Sie werden im Land verteilt an ganz bestimmte
Musikausbildungszentren. Es geht darum, fortgeschrittene Schülerinnen und Schüler, die häufig
bereits gleichzeitig Ausbilder sind, fortzubilden. Dieses System rekrutiert
ja seine Lehrkräfte aus sich selbst heraus. Die Fortgeschrittenen fangen
an, die Nachrückenden selbst zu unterrichten. Wir wissen, dass 2.500 hauptberufliche
Kräfte, davon die meisten Ausbilder, in diesem System von 260.000 Kindern
tätig sind. Man muss sich diese Zahlen einmal vergegenwärtigen in
einem Land von 14 Millionen Einwohnern.
nmz: Diese Zusammenarbeit des Deutschen Musikrates
mit einer venezolanischen Institution ist derzeit der einzige bilaterale Kontakt
zwischen diesen
Ländern? Krüger: Auf der allgemein-politischen Ebene ist
der Dialog mit der Regierung Chàvez sehr zurückgefahren. Auch wird Venezuela politisch nicht
mehr als Entwicklungsland angesehen, da aufgrund der dortigen Ölvorkommen
erhebliche Geldquellen vorhanden sind. Anders ist es nicht zu erklären,
dass zum Beispiel das „Sistema“ im Jahr 2007 100 Millionen Dollar
allein für die Beschaffung von Instrumenten für die musikalische
Arbeit an Grundschulen zur Verfügung hatte. In Deutschland kann man davon
im Augenblick trotz „Jedem Kind ein Instrument“ in Nordrhein-Westfalen
nur träumen.
nmz: Kann man sich vorstellen, dass dieses „Sistema“ in irgendeiner
Form auch in Deutschland praktiziert werden könnte? Im Moment sind nur
School Tour und SchoolJam unterwegs in sozial „problematischen“ Gegenden.
Die Klassische Musik hat da weniger Zugang. Krüger: Wir befinden uns in der Pilotphase für
ein Projekt, das auf Jahre hinaus angelegt sein wird. Die Idee José Antonio
Abreus, der vor 30 Jahren der Schöpfer dieses Projektes gewesen
ist, ist nicht nur allgemein Sozialarbeit durch Musik, sondern ganz gezielt
Sozialarbeit durch Spielen im
Orchester. Diese spezifische Pädagogik des Projektes basiert ja
darauf, dass Kinder unter Umständen schon mit drei oder vier Jahren
von Anfang an tagtäglich in Orchestern spielen. Ihm geht es, wie
er selber immer wieder betont, ganz unmittelbar um Ausprägung der
sozialen Fähigkeiten
und hierdurch die Ausprägung der individuellen Würde, was in
diesem Land von großer Bedeutung ist. Wenn wir ehrlich sind: Das
kann auch bei uns eine große Rolle spielen und sollte es auch.
Als Deutscher Musikrat müssen wir das Projekt dazu nutzen, einen
Fokus auf die besonderen Werte des Musizierens im Orchester zu richten.
Wir wollen verstärkt in die Richtung
gehen, die ja auch mit „Jedem Kind ein Instrument“ in Nordrhein-Westfalen
begangen wird.
nmz: Das Konzept eines Austauschbüros, das Sie auch vorliegen hatten,
wurde von Venezuela nicht anerkannt. Warum hat das nicht funktioniert? Krüger: Die Jeunesses Musicales hatte die sehr
gute Idee, man solle ein fest installiertes Büro haben. Denken wir nur an Nachhaltigkeit, an Wiederholung
des Projektes und so weiter. Es entwickelte sich dann ein kleiner Dissens darüber,
wie man dieses Projekt angehen sollte. Ich sehe das inzwischen so: Hätten
wir darauf bestanden, feste Strukturen im Vorfeld zu bilden, dann wären
wir heute noch nicht sehr weit gekommen. Dem Deutschen Musikrat war daran gelegen,
dieses Ziel gemeinsam mit Partnern auf weitgehend ehrenamtlicher Basis so zügig
wie möglich zu erreichen. Wenn man das Resultat jetzt sieht, war das richtig
so. Aber wir haben nicht vergessen, welch wichtige Impulse die Jeunesses uns
in diesem Zusammenhang gegeben hat. Wir sind auch weiterhin im ständigen
Austausch.
nmz: Venezuela ist nur ein Teil der auswärtigen Musikpolitik des Musikrats.
Zusammen mit der Rektorenkonferenz haben Sie auch in China ein Hochschulprojekt
angestoßen? Krüger: Wir sind seit etwa vier Jahren mit China
in laufend sich vertiefendem Kontakt. 2009 wird voraussichtlich in
Dalian an der nordostchinesischen Küste
in einer Zusammenarbeit zwischen der Folkwang-Hochschule Essen federführend
für die Rektorenkonferenz und der Hochschule für Musik in Shenyang
eine hinsichtlich der Inhalte und Abschlüsse deutsche Hochschule installiert
werden. Das muss ein Dock für vielfältige Aktivitäten im musikalischen
Nachwuchs- und Fortbildungsbereich zwischen Deutschland und China werden.
nmz: Welche außenpolitischen Aktivitäten unternehmen Sie gerade? Krüger: Im April werde ich einer Einladung zu
einem Internationalen Kongress nach Rom folgen, der sich vorwiegend
mit den philosophischen und ästhetischen
Grundlagen von Musikunterricht befassen wird. Dort werde ich über die
Wechselwirkung von Musik in Bildungssystem und Gesellschaft in Deutschland
referieren. Im selben Monat werden wir versuchen, in China den Grundstein zu
einem neuen Netzwerk mit chinesischen Universitäten zu legen.
nmz: Stichwort Deutscher Musikrat in Europa. Gibt
es weitere solche Initiativen? Krüger: Gemeinsam mit dem Europäischen Musikrat werden wir unsere
Deutsch-Polnische Musikbörse zu einer Europäischen Musikbörse
ausbauen.
nmz: In unserem Gespräch streiften wir verschiedene außenpolitische
Projekte. Die erfordern ja Kontinuität. Wie sehen Sie Ihre eigene Rolle
in diesem Zusammenhang? Krüger: Meine Rolle wird immer sein, zu versuchen,
bestehende Kontakte intensiv weiter zu pflegen und auszubauen. Wenn
Ihre Frage beinhaltet, ob ich
mich nächstes Jahr erneut zur Wahl stellen werde: Dazu habe ich angesichts
der Erfolge und Wirkungsmöglichkeiten des Deutschen Musikrates große
Lust, werde von vielen ermutigt und gehe derzeit fest davon aus.
Junge Philharmonie Venezuela
Eine Chronologie
1999 Der Kulturpolitiker José Antonio Abreu lädt Detlef Hahlweg,
Vorstandmitglied der Jeunesses Musicales Deutschland, nach Caracas ein,
um eine Kooperation mit dem Fachverband deutscher Jugendorchester zu beginnen.
2000 Nach einer Reise nach Venezuela schreibt Daniela Stork, Hospitantin
im Vorstand der JMD, ihre Magisterarbeit über die FESNOJIV unter dem
Aspekt „Lernen
von Venezuela“. Die JMD organisiert eine Deutschlandtournee für
das Kinderorchester Venezuela, das in Berlin mit dem Würth Preis
der JMD ausgezeichnet wird. Gustavo Dudamel hat seine ersten Dirigate
mit dem
Jugendorchester
in Deutschland.
2001 Auf Betreiben der JMD wird die FESNOJIV nationales
Mitglied der Jeunesses Musicales International. Auf Ini-tiative der
JMD erhält Jose Antonio Abreu
den alternativen Nobelpreis. Unter Claudio Abbado begründen die
Philharmoniker eine Patenschaft. Erste Meisterkurse in Caracas. Das
Studentenorchester Münster
mit Detlef Hahlweg ist auf Tournee in Venezuela.
2002 Bei der zweiten
von der JMD veranstalteten Deutschlandtournee gastiert die „Junge
Philharmonie Venezuela“ auch in Wien und Salzburg. Die
JMD setzt mit Hilfe deutscher Unternehmensrepräsentanzen in
Venezuela ein erstes Dozentenprogramm in Gang.
2003 Politische Turbulenzen
in Caracas erschweren die Aktivitäten.
2004 Simon Rattle äußert
bei seinem Besuch in Caracas, er habe „die
Zukunft der Klassischen Musik in Venezuela“ gesehen. Gustavo
Dudamel beginnt mit seinem Erfolg beim Gustav-Mahler-Dirigierwettbewerb
in Bamberg
eine internationale Karriere.
2005 Ausverkaufte Säle und
ein großes Presseecho kennzeichnen die
dritte Deutschlandtournee des Orchesters, präsentiert von
der JMD und der Bertelsmann Stiftung. Erster Auftritt des Venezuelan
Brass Ensemble unter
dem Berliner Philharmoniker Thomas Clamor beim Kongress „Kinder
zum Olymp“ in
Hamburg.
2006 Das Bundesjugendorchester absolviert eine Venezuela-Tournee,
der Präsident
des Deutschen Musikrats unterzeichnet in Caracas eine Kooperationserklärung.
EMI (Köln) produziert die erste CD des Brass Ensembles,
Deutsche Grammophon die erste CD des Orchesters.
2007 Gustavo
Dudamel und das „Simon Bolivar Youth Orchestra of Venezuela“ sind
zum vierten Mal auf Einladung der JMD in Deutschland. Die Doppeltournee
des Orchesters und des Brass Ensembles steht im Zeichen der Initiative „ZukunftsMusiker“ (dm
Drogeriemarkt).
2008 Konzerte in Berlin, Frankfurt, Ludwigshafen
und Baden-Baden im Spätsommer
2008 sollen die Erfolgsstory
in Deutschland fortsetzen.